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Archiv-Artikel

Machtfantasien auf Autoaufkleber

DIE KONTINUITÄT DES HASSES In der Schaubühne Berlin diskutierten Intellektuelle aus Ungarn, so die Philosophin Ágnes Heller und der Pianist András Schiff, über den aktuellen Antisemitismus in Ungarn

In Ungarn überraschen Beschimpfungen wie „Schwuchtel“ oder „Saujude“ nicht mehr, sie fallen leicht in der Öffentlichkeit. Die nationalistische Regierung Viktor Orbáns verletzt die Demokratie täglich, Neonazis marschieren einfach auf den Straßen. Dabei war Ungarn, die einst „fröhlichste Baracke Osteuropas“, zwischen 1867 und 1920 ein Land, das den Juden die meisten Rechte in Europa gegeben hatte, wie der österreichische Publizist Paul Lendvai am Sonntag in Berlin ausführte. Aber dann kam, so geht die Legende, 1919 eine dreimonatige Räterepublik, deren Regierungsmitglieder größtenteils jüdisch waren und einen roten Terror ausübten. Infolgedessen nahm der Antisemitismus in den darauffolgenden Jahren deutlich zu, Antisemitismus ist also kein neues Phänomen in Ungarn.

Darüber diskutierten in der Schaubühne in Berlin Intellektuelle ungarischer Herkunft, wie der Journalist Paul Lendvai, András Schiff, Pianist, und Ivan Nagel, deutscher Theaterwissenschaftler. Zu der prominenten Besetzung gehörte auch die Philosophin Ágnes Heller, die tatsächlich in Ungarn lebt. „Ich will die Sache nicht nur interpretieren, sondern auch verändern“, sagte sie. Auch Ivan Nagel empörte sich über die antisemitischen Tendenzen, und erinnerte an die Nobelpreisverleihung an Imre Kertész, die in einigen ungarischen Zeitungen mit der kodierten Nachricht kommentiert wurde: „Ihr Juden gehört nicht zu uns.“

„Einen politischen Antisemitismus gibt es in Ungarn nicht“, sagt hingegen Paul Lendvai, „sondern einen subkutanen, der sich durch ein allgemeines Ressentiment gegen Juden und durch die immer mehr akzeptierte öffentliche Benutzung von antisemitischer Sprache zeigt.“ Der werde von der rechtsextremen Partei Jobbik (Das Bessere), die mit 17 Prozent im Parlament sitzt, verstärkt. Dieser Hass habe seine Ursprünge in der Vergangenheit Ungarns, die immer noch nicht aufgearbeitet wurde.

„In Ungarn herrscht eine Opfermentalität“, erklärt Ágnes Heller, die auf die Jahrhunderte andauernde osmanische und habsburgische Besetzung zurückzuführen sei. Aus dieser Erfahrung der „Fremdherrschaft“ entstand der Begriff der „Fremdherzigkeit“, mit dem jeder Gegner der Orbán-Regierung charakterisiert wird. Jegliche Kritik werde dadurch überspielt. Die Rede ist von einer „jüdischen Weltverschwörung“: Ungarn sei an Israel verkauft worden und damit ließen sich die Schuldigen für alle wirtschaftlichen und sonstigen Probleme finden.

Ágnes Heller erinnerte auch an „die große Nationaltragödie“, den in Frankreich beschlossenen Trianon-Vertrag von 1920, der die Nachkriegsordnung nach dem Ersten Weltkrieg festlegte: Ungarn verlor zwei Drittel seines Territoriums, und 3,3 Millionen Magyaren wurden zu Minderheiten in den Nachbarländern – ein anscheinend bis heute unaufgearbeitetes Trauma.

Der Publizist Paul Lendvai regte sich über die Großungarn-Fantasie auf: Diese zeige sich zum Beispiel in der Form von Etiketten, die auf einige Autos in Ungarn aufgeklebt sind und das ehemalige „Großungarn“ abbilden. Aber nützt es etwas, sich darüber in Berlin zu empören?

Der Pianist András Schiff fordert mehr Zivilcourage seitens seiner ungarischen Musikerkollegen. Ein Anfang ist möglicherweise gemacht: Gerade am 2. Januar bei der Großkundgebung gegen die neue Verfassung zeigte sich „kritische Masse“, zu der viele Intellektuelle und Künstler gehören. Denn diese Regierung stützen und die grundlegenden Probleme Ungarns lösen können nur die dort lebenden Ungarn selbst. ANNA FRENYO