: Balkanische Konturen
Fischer im Dienst (2): Durch das Massaker von Srebrenica hat der Außenminister seine Position zu Völkermorden präzisiert. Eine klare Haltung zum Kosovo fand er nicht
Sichtlich erschüttert stand im Oktober 1996 Joschka Fischer am jüdischen Friedhof in Sarajevo und blickte von dort auf die sich im Tal ausbreitende Stadt. Ein Jahr nach Beendigung des verheerenden Krieges in Bosnien und Herzegowina mit all den Toten, den ethnisch motivierten Vertreibungen und den Konzentrationslagern waren die Spuren der Zerstörung durch die serbische Artillerie im Stadtbild noch deutlich zu sehen.
Über drei Jahre lang habe er aus Überzeugung die nichtinterventionistische Position vertreten, sagte Fischer ein paar Tage später in einem taz-Interview, es sei ein Fehler gewesen, nicht früher auf militärisches Eingreifen der internationalen Seite gesetzt zu haben. Das Massaker von Srebrenica hätte so verhindert werden können. Später wurden ihm diese Äußerungen als wohl kalkuliert ausgelegt, denn das „mea culpa“ in der taz kam erst, nachdem sich die Stimmung innerhalb der Grünen zu drehen begann. Innerparteilich bedeutete es zu diesem Zeitpunkt kein allzu großes Risiko mehr. Er wolle sich in Erwartung einer rot-grünen-Koalition zudem in der Öffentlichkeit ministrabel machen, um nach den Wahlen von 1998 den Posten eines Außenministers anstreben zu können, lautete der Vorwurf.
Doch Fischers Meinungsänderung war nicht nur rein taktischer Natur, sondern offenbarte einen Teil seiner politischen Identität. Der katholische Bischof von Banja Luka hatte den grünen Oppositionspolitiker nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Europa dem Wüten eines neuen Faschismus tatenlos zugesehen habe.
Der Hinweis auf den Faschismus hatte Fischer elektrisiert und ihm auch persönlich zu schaffen gemacht. „Diesen Zusammenhang muss die deutsche Linke begreifen, auch die pazifistische. Wer nicht handeln will, handelt dennoch bei einem Genozidversuch.“ Die Standpauke in Banja Luka hat sicherlich ihren Teil dazu beigetragen, seine außenpolitischen Vorstellungen in Bezug auf die künftige Verantwortung des demokratischen Deutschlands gegenüber Genozid und Krieg zu präzisieren. Denn der Satz, die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland hätten schon früher militärisch eingreifen müssen, fiel nicht zufällig. Die internationale Staatengemeinschaft müsse präventiv handeln, war die logische Konsequenz.
Die Nagelprobe kam schon kurz nach der Vereidigung als Außenministers 1998. Im Kosovo hatte sich im Sommer dieses Jahres die Lage zugespitzt; angesichts mehrerer Massaker war ein Genozid an den Kosovoalbanern nach bosnischem Vorbild zu befürchten. Nach dem Massaker von Račak im Januar 1999 schloss sich die deutsche Regierung den Positionen der Nato-Staaten an, den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević mit der Drohung einer militärischen Intervention an den Verhandlungstisch in Rambouillet zu zwingen. Nachdem Milošević die Konferenz platzen ließ, rangen die internationalen Institutionen um ihre Position. Fischer bestand nach anfänglichem Zögern nicht mehr auf einem Beschluss des UN-Weltsicherheitsrates, der wegen des zu erwartenden Vetos Russlands und Chinas auch nicht zustande gekommen wäre.
In der Spannung zwischen der Furcht vor einem neuen Genozid und dem damals gängigen Völkerrecht stimmte die Regierung dem militärischen Angriff der Nato auf Serbien zu. Das bislang Undenkbare wurde wahr: Eine rot-grüne Regierung unter Schröder, Fischer und Scharping führte Deutschland im März 1999 ohne Mandat der UN in den ersten Krieg seit 1945.
Immerhin war ein Durchbruch gelungen. Die internationale Gemeinschaft zeigte, dass sie weitere Kriege auf dem Balkan nicht mehr hinnehmen würde. Um die UN wieder ins Spiel zu bringen, drängte Fischer auf eine Beteiligung der UN für die Zeit nach der Beendigung des Bombenkrieges gegen Serbien. Zudem wollte er mit einem Stabilitätspakt für Südosteuropa das Interesse Berlins dokumentieren, nicht nur mit militärischen Mitteln, sondern durch eine Vielzahl von wirtschaftlichen und politischen Initiativen für Frieden und Demokratie auf dem Balkan zu sorgen.
Indem aber die internationale Gemeinschaft in Form von EU, UN, UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, Nato – trotz einiger Differenzen mit den USA – im Großen und Ganzen an einem Strang zog, verwischte sich das deutsche Profil in der Balkanpolitik. Brüssel übernahm das Zepter und löste mit der EU-Armee in Bosnien und den Polizeikräften in Bosnien und Kosovo Nato sowie UN-Polizei ab.
Der hauptsächlich von Deutschland unterstützte Stabilitätspakt für Südosteuropa wurde schon bald kaum mehr wahrgenommen und dümpelte vor sich hin. Mit dem Anschlag vom 11. September 2001 verschoben sich zudem die Koordinaten der Weltpolitik, die USA sind keine treibende Kraft auf dem Balkan mehr. Daran änderten auch die militanten Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Serben im Frühjahr letzten Jahres im Kosovo zunächst nichts.
Und doch zeigten die Toten im Kosovo, dass auf dem Balkan weiterhin ungelöste Konflikte schwelen. Die bisherigen Anstrengungen und Konzepte für die Region reichen offensichtlich nicht aus. Der zukünftige Status des Kosovo muss endlich entschieden werden, weil der jetzige Zustand immer wieder Konflikte zwischen Albanern und Serben hervorruft. Ob Fischers erstmaliger Besuch im Kosovo nach vier Jahren am vergangenen Wochenende eine Wende einleitet, ist aber fraglich.
Der Außenminister scheut sich nach wie vor, in der Statusfrage des Kosovo Position zu beziehen. Die jetzt von Fischer angestrebte Lösung, eine möglichst große Autonomie für das Kosovo innerhalb des wackeligen Staatenbundes Serbien-Montenegro, ist kein Befreiungsschlag, sondern lediglich eine Neuformulierung der internationalen Politik seit 1999. Für die im Sommer beginnenden Status-Verhandlungen bringt der Vorschlag wenig. Und auch in Bosnien steht die Revision des Abkommens von Dayton auf der Tagesordnung. Die auf ethnisch-nationalistischen Kategorien beruhende Teilung des Landes in so genannte Entitäten muss zehn Jahre nach Kriegsende endlich überwunden werden.
In beiden Fällen bedürfte es großer diplomatischer Anstrengungen und auch Ideen aus den Hauptstädten der wichtigsten Staaten. Deshalb hoffen große Teile der Bevölkerung im Kosovo und in Bosnien auf eine deutsche Initiative. Nicht nur, weil sie in Deutschland die zweitwichtigste demokratische Macht hinter den USA sehen, sondern auch, weil sie die Position Fischers zum Anfang seiner Amtszeit durchaus positiv wahrgenommen haben. Warum sollte es zehn Jahre nach dem Krieg nicht eine neue Bosnien-Konferenz geben? Doch Fischer versteckt sich hinter der trägen EU-Politik, obwohl gerade die Revision von Dayton den ursprünglichen Intentionen des Außenministers entsprechen müsste. Und so ist leider festzustellen, dass Fischers Balkanpolitik über die Jahre die anfänglich stark geschnittenen Konturen verloren hat. ERICH RATHFELDER