: Das rote Licht am Stutti
Der Stuttgarter Platz hat eine lange Tradition als Zentrum der Prostitution. Weil das Geschäft schlecht läuft, schwindet nun das Milieu. Die Prostituierten suchen schon lange nach besseren Arbeitsplätzen
VON HELMUT HÖGE
Der „Stutti“ entstand 1882 mit dem Bau der Stadtbahn, die erstmalig Charlottenburg mit Berlin verband, woraufhin die Gegend um den Bahnhof Charlottenburg rasch bebaut wurde; der Platz erhielt 1892 seinen Namen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zum Zentrum des Schwarzhandels – und dann auch der Prostitution, was sich bis heute nicht geändert hat, nur dass es kaum noch Zuhälter gibt – und die Ware heute nicht mehr an deutschen, sondern an ausländischen Zöllnern vorbeigeschmuggelt werden muss. Berühmt wurde der Stuttgarter Platz durch die „Kommune 1“, die sich dort von 1967 bis 68 einmietete – und so viele Journalisten anzog, dass die Kommunarden ein Schild an ihrer Tür anbrachten: „Erst blechen, dann reden!“
1978 gründete sich am Stutti eine Bürgerini, die erfolgreich für eine Verkehrsberuhigung und für eine Grünanlage kämpfte. Diese Wohnumfeldverbesserung vertrieb auch sozial Schwache, was wiederum schicke Cafés nach sich zog sowie – vorübergehend – die Anwesenheit des Historischen Museums unter Christoph Stölzl und der Literaturagentur von Eggers & Landwehr. Seit sechs Jahren gibt es eine neue Bürgerini. Die will den Bau eines Hochhauses und die Verlegung des S-Bahnhofs am Stutti verhindern.
Weil die „Import-Export-Läden“ für Elektronik mit dem EU-Beitritt Polens quasi ihre Geschäftsgrundlage verloren, verschwindet das Milieu: Rotlicht und Schwarzmarkt. Maria, die Geschäftsführerin eines iranischen Import-Export-Ladens, überlegt schon länger, ob sie sich nicht in ihrer Heimatstadt Wrocław selbständig machen soll, so mies geht das Geschäft! Oy, eine thailändische Prostituierte aus dem „Star-Club“ an der Ecke, schmiss bereits 1998 das Handtuch. Sie schafft neuerdings im Kurort der noch einigermaßen betuchten Rentner, Bad Salzuflen, an. Im Star-Club arbeiten vornehmlich thailändische „Lady-Men“, die berühmt für ihre draufgängerische Art – und ihre Geschicklichkeit beim Brieftascheklauen – sind. „Das war der härteste Puff, in dem ich jemals war, einmal musste ich zwei der Lady-Men mit dem Messer bedrohen, um mir Respekt zu verschaffen“, sagt die heute 48-jährige Oy. Im selben Jahr, als sie dort aufhörte, widmeten Gabriele Riedle und Victor Jerofejew in ihrem Reisebuch „Fluss“ einer dieser Thai-Transvestiten am Stutti ein paar Seiten, wobei sie aus ihr eine kitschig-traurige Halbweltfigur machten.
Eher in der Tradition der südrussischen Adjektivverknappung stehen dagegen die Schilderungen der ukrainischen Prostituierten Lilli Brand. Sie wurde gleich zweimal von ihrer Kiewer Schlepperbande in der „Pension Eva“ am Stutti einquartiert. Hier sollten sie und ihre Transit-Kolleginnen noch am selben Tag anfangen, die Männer zu bedienen. Lilli war bei ihrer ersten Ankunft so schockiert, dass sie am liebsten abgehauen wäre: „Als wir in den Flur traten, kamen uns schreiend zwei halbnackte, blutende Frauen entgegen. Ein russischer Penner, der gelegentlich unten im Hausflur übernachten durfte, hatte die beiden Frauen in einem Zimmer eingeschlossen und wollte sie vergewaltigen, wobei er sie mit einer abgebrochenen Flasche bedrohte“, erinnert sich Lilli. Die eine konnte entkommen, die andere wurde übel zugerichtet. „Das war also unser erster Eindruck von der Pension Eva.“
Lilli Brand hat ihre „Transitgeschichten“ aufgeschrieben*. Während sie bei ihrem ersten Berlinaufenthalt noch mehrere Wochen in der Stutti-Pension arbeiten musste, bis sie sich in eine Freiburger „Tanzbar“ vorgearbeitet hatte, blieb sie beim zweiten Mal nur kurz. Durch Vermittlung einer Freundin fand sie schnell einen „besseren Arbeitsplatz“ – im Friedrichshainer Bordell „Lord Gabriel“.
Rückblickend findet sie: „Es wimmelte da von sowjetischen Mädchen, die Männer waren unangenehm. Überhaupt ist mir der ganze Stuttgarter Platz zuwider.“ Lieber treibt sie sich bei den Fixern und Pennern am Zoo herum. Aber in Charlottenburg ist sie immer noch gerne, weil sie dort in wechselnden Wohnungen lebte. „Da kenn ich mich aus. Aber nicht so, dass das meine Heimat geworden wäre … Ich bin immer noch irgendwo dazwischen – auf der Strecke.“
Literatur: Lilli Brand, „Transitgeschichten“, DVA, 157 Seiten, 17,90 €