Die Renaissance des Irrsinns

Christen und Christiansen: Gläubische und Medien wollen eine neue Sehnsucht nach alten Werten entdeckt haben

Die Verklappung des Papstes neulich zu Rom verursachte dort bekanntlich einen religiösen Taumel ohnegleichen. Ganze Heerscharen vorwiegend katholischer Konfession eilten in die Heilige Stadt und reihten sich tagelang in die kilometerlangen Schlangen vor dem Petersdom, um an der Hülle ihres gewupperten Käppiträgers vorbeizudefilieren. Und es war dies wohl die meistgestellte Frage dieser hysterischen Tage: Was ist bloß in die Leute gefahren?

Dabei kann man die monströsen römischen Schlangen leicht mit einer Analogie zum Phänomen des Verkehrsstaus erklären. Denn das lernt doch jeder Massenpsychologe schon im ersten Semester: dass nämlich die Ansage eines Autobahnstaus die Autofahrer nicht davon abhält, sich an diesem zu beteiligen. Im Gegenteil. Je länger eine Schlange zu werden verspricht, desto mehr reihen sich ein.

Nach diesem Prinzip dürfte auch die megamassenhafte Versammlung rund um den Petersdom funktioniert haben. Angestachelt von den ständig sich verschärfenden Staumeldungen aus Rom trotteten immer mehr Schäfchen gen Rom, getreu dem Massenanziehungsgesetz: Da ist was los, da muss ich dabei sein. Andersrum war auch den medialen Gehirnwäschern in ihrem unermesslichen Sensations- und Bilderhunger an einem möglichst gewaltigen Auftrieb gelegen. Und so fügte sich alles: Die Katholischen konnten sich im größten Gefühleschlammbad aller Zeiten suhlen, und die Medien bekamen reichlich Stoff.

An dem sie selbst jetzt noch eifrig herumzerren, indem sie in mannigfaltiger Sendeform den Mumpitz von Rom als einen neuen Aufbruch des Religiösen hinzubiegen versuchen, dem besonders die Jugend zugeneigt sei. Ob sich da möglicherweise eine Renaissance des Glaubens abzeichne, eine neue Sehnsucht gar nach alten Werten, fragte gewohnt schiefköpfig die alte Schachtel der ARD, Sabine Christiansen, in ihrer jüngsten Sendung, in der sie neben der niedersächsischen Mutterkreuzträgerin Ursula von der Leyen und einem katholischen Wertewart namens Marx auch ein paar Hardcore-Christen ihre allerwertesten Ansichten verbreiten ließ. Etwa dass der voreheliche Geschlechtsverkehr rundweg abzulehnen sei, wie da ein bekennender Ungefickter greinte und dabei eine so erbärmliche Leichenbittermine zur Schau trug, dass man fast Mitleid mit dem keuschen Jungschen bekam.

Angesichts des derzeit massiven Vortriebs mittelalterlicher Werte etwa in der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik kann es deren Fürsprechern und Profiteuren allerdings nur recht sein, wenn z. B. die Hartz-IV-Betroffenen künftig sogar eine Sehnsucht nach den damit verbundenen Härten verspüren. Nicht mehr lange hin, und eine Christiansen-Runde wird den Ein-Euro-Job als gottgefällige Gabe und den existenziellen Niedergang als eines Christen gute Pflicht anpreisen, der aber – Renaissance des Glaubens! – im Jenseits mit Schlaraffenland und einem Sitzplatz zur Rechten Gottes belohnt wird. Zum Recht der ersten Nacht, das ja ebenfalls auf den Werten der itzo wieder schrittweise eingeführten guten, alten ständischen Ordnung fußt, ist es dann auch nur noch ein kurzer Weg. Bei Christiansen muss dann bloß noch diskutiert werden, ob bereits das mittlere Betriebsmanagement die neuen Praktikantinnen entjungfern oder ob dieser gute alte Wert allein vom Vorstand abgeschöpft werden darf. FRITZ TIETZ