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Archiv-Artikel

So viele Geschichten

An keinem anderen Ort in Berlin sind die frühen Neunziger so intensiv und direkt erfahrbar gewesen wie im Tresor. Dieses Wochenende öffnet er zum letzten Mal seine Tore. Der Erste, der der Letzte war: der Dinosaurier der Berliner Technoclubs

Jahrelang spielte Sven Väth am Sonntag nach der Love Parade dionysisch zwölf Stunden lang. Manchmal wurde er rausgetragen

VON DETLEF KUHLBRODT

Der Tresor wird irgendwann, vermutlich am Montagvormittag, endgültig seine Türen geschlossen haben. Irgendwas wird dann zu Ende gegangen sein nach 14 Jahren. Nicht die Musik, nicht die „elektronische Tanzkultur“, die gerade ein Revival hat, sondern die Nachwendezeit irgendwie in der Mitte Berlins – ach was –: der Tresor macht halt zu. Der Letzte, der der Erste war, der immer noch sehr agile Dinosaurier der Berliner Technoclubs sozusagen, tritt ab. Oh, no, please don’t go! Oh no, please don‘t go! Don’t go, little dinosaur, please don’t go away!

Seit zehn Jahren ist das Ende immer wieder verkündet worden. 1995 hatte der Münchner Unternehmer Peter Kottmair das Gelände vom Bund kaufen und unter anderem ein Varièté für den Cirque du Soleil bauen wollen. Ein paar Jahre hatten die Leute vom Tresor auch von einem 28 Meter hohen Tresor-Tower mit Büros für Labels und Trendbüros oben und der Diskothek unten geträumt. Die Pläne waren schon fertig. Irgendwann kaufte dann die Bauwelt Property Group (welch ein Name!) das Gelände und verkaufte es an die Volksfürsorge, die hier, wo Techno noch am authentischsten war, einen Büroturm hinbauen möchte. Hier, wo true people aus Detroit und Chicago ihre Homebase hatten, der DJ-Nachwuchs gefördert wurde, wo alle Guten aufgelegt haben, manch Brandenburger auch seine erste intensive Großstadterfahrung hatte. Superidee, denkt man so, angesichts des Berliner Bürobautenleerstand. Dass das Ende plötzlich kommen würde, war vorauszusehen. Der Mietvertrag der Tresormacher sieht schon seit Jahren eine Kündigungsfrist von zwei Monaten vor.

Ach was.

Tresor. Die Härte. Meterdicker Stahlbeton. Ganz früher das Wertheim-Kaufhaus. „Als Teil des enteigneten jüdischen Vermögens der Wertheim-Dynastie war es Gegenstand des von der Jewish Claims Conference erst kürzlich erstrittenen Restitutionsverfahrens.“ (Tagesspiegel) Zwischen 1945 und 1991 hatte niemand den Tresorraum im Keller des Kaufhauses betreten. Dann entdeckte ein von Dimitri Hegemann beauftragter Detektiv auf der Suche nach geeigneten Räumen den Tresor und Hegemann kam mit seinen Leuten. Im rechtsfreien Raum wurde der Tresor in Betrieb genommen.

Pioniergeschichten aus der Gründerzeit gibt’s haufenweise. Anfangs räumten die Raver immer selber noch auf. Techno aus Detroit und House aus Chicago war der Soundtrack der deutschen Wiedervereinigung. So viele hatte man dort gesehen: Jeff Mills, Blake Baxter, Juan Atkins, Christian Vogel, Tanith, Motte auch und Christian Vogel und Joey Beltram, der heute Abend im Kulturkaufhaus Dussmann auflegt, bevor er in den Tresor geht zum Abschied. Und Good Groove, Rolando, Frankie Valentine, Woody McBride und LA Williams und Wimpy und André Galluzi und die Ganzen, deren Namen man sich nicht gemerkt hat.

Auch die Leute aus den Alternativbereichen der Technomusik haben in der Tuna-Bar, dem freundlichsten Ort sozusagen im Tresor, oft Musik gemacht. Leute wie DJ Matchbox, der aus Hannover kam, mit 17 zum ersten Mal hier war, drei Jahre lang eine Technosendung machte und sonst noch in einem Plattenladen arbeitet. Für ihn wie für die Sozialisation vieler anderer Leute war der Tresor „extrem wichtig“, sagt er.

Das war ja auch so ein Auf und Ab. Erst dauernd hin, dann nicht mehr so oft, dann wieder. Die Übergänge waren fließend; von den Star-DJs zu den brandenburger Nachwuchsauflegern, von den 47 Angestellten zu den Besuchern. Das war das grundsätzlich demokratische Element, dass der DJ nicht herausgehoben auf einer Bühne auf die Leute runterguckte.

Eine Zeit lang standen Hell’s Angels an der Tür. Und jahrelang dann immer am Sonntag des Love-Parade-Wochenendes Sven Väth so dionysisch zwölf Stunden lang. Manchmal wurde er danach rausgetragen. Aber die meisten DJs sind eher nüchtern, glaube ich. Das DJ-Leben ist ja ziemlich hart. Je nüchterner, desto härter manchmal auch. Zwischendurch vielleicht mal ein Stick. Aber ohne Tabak bitte.

Wie LA Williams, der Musik macht, seitdem er 15 ist, aus der Chicago-House-Szene kommt und wie Tyree Cooper mittlerweile in Berlin lebt. Es war immer klasse, wenn LA aufgelegt hat. Sein Vater war schon DJ. Zeitweise war er auch bei der Gruppe Phuture beteiligt. Man ist völlig müde und fertig, will eigentlich gehen und dann legt LA auf und man ist plötzlich wieder total wach und bleibt und der ganze Müll im Kopf ist wieder weg. Positive Energie klingt vielleicht blöde, ist aber so. Ich kenne nur wenige DJs, die so gut und genau auf ihr Publikum reagieren. Ob’s ein paar sind oder ganz viele, ob verpeilt oder straight. Im Tresor und Globus und anderswo. Er sagt: „I like to be in the middle of the crowd“ und „It’s all about Rock ’n’ Roll“ und der Tresor „is like a big house and everybody’s welcome“, der ideale Ort für diese Musik, die man in Amerika kaum noch angemessen präsentieren kann. Er macht „mind beats for those with lost souls“. Da hat er Recht. Mit den „lost souls“. Das ist dann auch seine therapeutische Aufgabe. Und der Tresor: „I will miss it but it will live forever in our hearts. See you in the phuture.“

Manche gingen auch nur am Mittwoch hin. Gute Zeiten, schlechte Zeiten, aber irgendwie hatte man auch immer den Eindruck, dass sich im Tresor die Stimmung der Stadt widerspiegelte: die Euphorie Anfang der Neunziger, die Lethargie Ende der Neunziger und dann wieder so ein gewisses Aufschwungsgefühl. Die Freunde aus der Goa-Szene fanden den Tresor sehr dark und apokalyptisch.

Sandra gehörte zu den Leuten, die Ende der Neunziger gerade von der Uni kamen und auf der Suche nach dem Anderen „auf keinen Fall in einen dieser Clubs hineinwollten, wo souverän gelangweiltes studentisches Publikum den Frickeleien eines intellektuellen DJ-Freaks lauschte.“ Wir hatten an der Uni ähnliche Sachen studiert und ähnliche Ansichten und waren glücklich, als wir uns trafen, weil wir als verpeilte Intellektuelle sozusagen in einer doppelten Außenseiterposition waren. Sie mochte meine Texte und schenkte mir tausend Mark, weil ich gerade in Geldnot war und sie gerade was hatte. Echt. Nach dem ersten Treffen. Typisch Tresor! Nun lebt sie seriös, sozusagen. „Klar – das war auch eine Pose, um sich von den anderen abzugrenzen, die nichts riskierten und immer nur sich selbst und ihresgleichen begegnen wollten. Während man selbst als Levi Strauss des Nachtlebens am liebsten zwischen nackten Oberkörpern von Schwulen herumtanzte. Drogen gehörten ganz klar dazu. Kaum jemand, der nicht dieses bestimmte Glänzen in den Augen hatte. Die tollste Wirkung der Drogen war, dass man seinen eigenen Körper so stark umrandet wahrnahm, also die Grenze Körper/Außenwelt wirklich spürte, dass man sich traumwandlerisch durch die Menge schlängelte. Im Tresor gab’s ja diesen Fotofixautomaten und da setzte ich mich immer rein und lichtete mich ab. Auf den Fotos habe ich diese ratzekurze wasserstoffblonde Frisur und immer fast nichts an, bzw. so ein kurzes olivgrünes Oberteil. Meine Schuhe waren nur danach ausgewählt, ob man eine Nacht durchtanzen konnte.“

Noch mal: An keinem anderen Ort in Berlin sind die frühen Neunziger so intensiv und direkt erfahrbar gewesen wie im Tresor, wo die Geschichte aufgehoben ist – zumindest im zweifachen, also dann doch nicht mehr hegelschen Sinne. Fußballerisch könnte man sagen: Die Intensität des Spiels von früher und heute ist ähnlich; das Spiel aber ist ein anderes geworden – und dann fällt einem wieder dieses supertolle Love Weekend im Tresor ein. 1998. Wo wir wegen der Fußball-WM den Club kurz verließen und in einem türkischen Imbiss nahebei das Endspiel anguckten. Mit lauter leicht Verpeilten in diesem Imbiss und danach wieder zurück. Superklasse und Rolando hat da aufgelegt.

So viele Geschichten. Anfang der Neunziger, als es hier nahebei das E-Werk gab und das Elektro und das WMF und den Brasilianer und den Friseur. Jetzt mehr eine Insel. Paarmal dann wieder dagewesen. Blake Baxter war viel besser als vor zehn Jahren, dachte ich, und das Brett von Woody McBride, und gestern DJ Rush, der im Osten ja auch so beliebt ist; die totale Härte. So supervoll natürlich. Endlose Schlangen auf der Leipziger Straße wie bei der Love Parade früher.

Michael Andrawis aus London hat einen Film über den Tresor gemacht, der heute Abend um 12 Uhr im Filmtheater Hackesche Höfe gezeigt wird. Man muss das alles in einem größeren Zusammenhang sehen, sagt er. Also auch an Stockhausen denken. Ein bisschen wäre das wie bei Punk, dass die Leute also recht spät die kulturelle Bedeutung davon erkennen. Ach was. Man ist dankbar am Ende und möchte sich bei den ganzen Leuten bedanken, den 47 Mitarbeitern des Tresors auch, die ihre eigenen Geschichten haben. Wie es weitergeht, ist unklar. Es wird gesucht und zunächst wird’s Exilveranstaltungen im Maria geben.

So standen wir gestern mit dem Rücken an den Schließfächern und Herbert sagte plötzlich: „Ich weiß jetzt, worum es geht: Es geht um die letzte Platte. Was nimmt man da. Verstehst du?“ – „Ja!“