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Archiv-Artikel

Ein gefährlicher Romancier

Ohne Frau Elke Heidenreich („Lesen!“) oder den diversen Initiativen zur Leseförderung, die es heute so gibt, zu nahe treten zu wollen: Wenn ich pauschal jemand fürs „Gute Buch“ Werbung machen höre, muss ich immer grinsen. Musste ich immer schon – und das hat etwas mit Jean-Paul Sartre zu tun. Sein früher Roman „Der Ekel“ gehört zu dem kleinen Kanon von vier Büchern, in die ich in der Frühzeit meiner literarischen Sozialisation meine pubertätsbedingte Gesellschaftsverachtung und mein jugendliches Antiheldentum hineinpackte. Neben dem „Ekel“ waren das Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, Musils „Törless“ und – nicht lachen! – Goethes „Leiden des jungen Werthers“. Die Leseempfehlungen kamen wohl von Lehrern, dennoch habe ich das Gefühl, dass diese vier Bücher mich wie von selbst genau zur richtigen Zeit gefunden haben. Endlich Schluss mit Hesse!

Das war vor 25 Jahren. Seitdem hat sich der Status dieser vier Bücher in meinem internen Ranking ausdifferenziert. Beim „Werther“ bin ich inzwischen selbst darüber gerührt, dass ich in dieses Buch einst meine eigenen Liebesprobleme hineinprojizieren konnte. Der „Brigge“ ist mir mittlerweile zu kunstreligiös. Aber der „Törless“ und Sartres „Ekel“ haben ihre Brisanz behalten. Das sind, jedes auf seine Art, eben keine guten, sondern böse Bücher. Von Edgar Allen Poe stammt die Pathosformel, dass die Beschreibung des Ichs ein Wagnis sein kann, bei dem sich die Feder sträubt. Zusammen mit dem frühen Musil ist der frühe Sartre ein Autor, der diese Formel beglaubigt.

Aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist einem ja die Figur des Intellektuellen bekannt, der immer für ein wohl formuliertes Statement gut ist, dessen Romane aber stets so etwas enttäuschend Gutgemeintes haben. Bei Jean-Paul Sartre ist das ganz anders. Wäre er nicht der Philosoph des Existenzialismus und der König der engagierten Intellektuellen geworden, er hätte immer der genuine Schriftsteller bleiben können (dass ihn das Schreiben nie verlassen hat, beweist sein Spätwerk „Die Wörter“). Vom Intellektuellen Sartre ist der Romancier Sartre derzeit etwas verdeckt. Aber das wird der Eigenständigkeit seines Prosawerks nicht gerecht. „Der Ekel“ ist mehr als nur die literarische Umsetzung philosophischer Thesen. Seine Kraft erhält der Roman durch genuin literarische Mittel: Beobachtungsgenauigkeit und Stil.

Was das Buch dabei aufregend, aber auch gefährlich macht, das ist die Verbindung von Gesellschaftsentlarvung und Vivisektion des Erzählers. Da geht einer durch seine alltägliche Umgebung, fühlt sich fremd, geht dann den Gründen nach, warum er sich fremd fühlt, und muss feststellen, dass es eine unüberbrückbare Kluft gibt zwischen ihm und seiner Umgebung, ihm und der Gesellschaft, im Zweifel sogar ihm und der Welt. Sartre hat dieses Motiv nicht erfunden, aber er hat es auf gewöhnliche Lebenszusammenhänge ausgeweitet.

Seit dem „Ekel“ muss man keine großen Abenteuer erleben oder unglücklich verliebt sein, man braucht auch kein Künstler zu sein oder sich gerade in der schwierigen Phase der Pubertät zu befinden, um sich fremd zu fühlen in dieser Welt. Man braucht einfach durch die Straßen zu laufen, die Menschen der Umgebung zu beobachten, sich selbst vielleicht dann und wann im Spiegel anzusehen, um irgendwann möglicherweise feststellen zu müssen, was in „Der Ekel“ der Icherzähler Antoine Roquentin am Anfang so lapidar feststellt: „Etwas ist mir passiert, daran ist kein Zweifel möglich.“ Diesem Etwas auf die Spur zu kommen, kann dann zur Aufgabe, zur Bürde, vielleicht aber auch zur Herausforderung eines ganzen Lebens werden. Was ist dagegen schon ein „gutes Buch“?

DIRK KNIPPHALS