Aus dem Gröbsten raus

Ostverträge, Vollbeschäftigung, Massenkonsum, RAF-Terror, Reform-Unis, Dispokredit: Die Siebzigerjahre – das schrecklichste, das glücklichste Jahrzehnt der Bundesrepublik?

VON JAN FEDDERSEN

Das konnte ja nicht gut gehen. Schwein sein oder nicht, zur Lösung des Problems beitragen – oder selbst Teil des Problems sein: Das war, ernsthaft, bar aller Ironie, die Perspektive, die die RAF und ihre Sympathisanten, überhaupt die Achtundsechziger auf jene hatten, die sie als „Volk“ sahen und verachteten.

Und da es ihnen politisch nicht folgte, musste es eine Schweineherde sein, eine anonyme Masse im System, von Charaktermasken und postfaschistischen Helfershelfern, die keine Mission verdient haben. Was möglicherweise auch ein Stück des Todeswahns erklärt, dem sich Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und andere in ihren (auch Stammheimer) Zellen unterwerfen wollten: Diesem Volk, dem deutschen, war nicht zu helfen – da musste es mit dem eigenen Abschied für immer bestraft werden.

Allein: Waren das schon die Siebzigerjahre? Zu zeichnen als eine Skizze, in der sich ein Jahrzehnt historisch wie eine Niederlage, eine tiefe Enttäuschung ausnimmt, ein Jahrzehnt der verpassten Chancen und misslungenen Experimente? Weshalb aber wollten die allermeisten Bundesdeutschen nicht in das Stahlbad des revolutionären Aufbruchs steigen?

Weil die Wirklichkeit anders war als die der linken Boheme. Aus Sicht von Emigranten wie Willy Brandt, der aller konservativen Hetze („Vaterlandsverräter“) zum Trotz 1969 Kopf einer sozialliberalen Regierung wurde und damit Bundeskanzler wurde, lagen die Dinge ohnehin klar: Die Bundesrepublik, erst seit 1949 demokratisch verfasst, musste verteidigt werden – gegen die DDR, gegen das Erbe des Nationalsozialismus, gegen die eben erst kalmierte Aversion von Bürgertum und Restadel gegen parlamentarisch unterfütterte demokratische Verhältnisse.

Aber das musste nichts bedeuten. Hätte ja sein können, dass es nur ein politischer Traum war, der den real existierenden Menschen einerlei war. Tatsächlich jedoch hatte die radikale Linke schon deshalb keine Chance auf Realisierung ihrer Fantasien, weil die Siebziger die besten Jahre ganz unterschiedlicher Akteure waren. Und zwar zunächst der heute so genannten Unterschichten. Nicht nur der Streik im öffentlichen Dienst 1974 bescherte den Proleten unfassbar hohe Lohnzuwächse. Vollbeschäftigung galt ohnehin als Normalzustand.

Man konnte sich was leisten, mehr noch: Man konnte sich eine Menge leisten. Man war plötzlich, im Laufe weniger Jahre, aus dem Gröbsten raus. Das Automobil wurde das Fortbewegungsmittel schlechthin – das Fahrzeug, das sich in den Fuffzigern nur Vermögende leisten konnten, wurde allgemein bezahlbar. Wer noch mit der Bahn fuhr, tat es nicht mit ökologischer Moral, sondern weil man für einen Führerschein noch zu jung war oder doch kein Geld hatte. Aber von Letzteren gab es nicht so viele: Ein Auto war ein selbstverständliches Statussymbol. In jenen Jahren kam auch der Tourismus erst so richtig in Schwung. Spanische Strände, Mallorca, Italien ohnehin – das war dem deutschen Arbeiter doch ein echtes Argument, sich passabel wohl zu fühlen.

Die Siebziger – das war das Jahrzehnt des so genannten Massenkonsums. Dass der bei Linken (später: Alternativen) unter Verdacht stand, spielte keine Rolle: Einkaufszentren im Stadtteil, nicht nur in den Kernen der Metropolen, Möbeldiscounter auf der grünen Wiese … Selbst Restaurantbesuche waren bezahlbar; Banken und Sparkassen warben erstmals offensiv mit der Möglichkeit eines Kleinkredits: Man wusste, dass der vollbeschäftigte Prolet keine Schwierigkeiten haben würde, es zurückzuzahlen.

Das Wort Dispokredit wurde in jener Zeit geboren: Das Girokonto (der Lohn wurde ja nicht mehr bar am Ende der Woche oder des Monats in der Papiertüte überreicht) durfte überzogen werden. Das fröhliche Konsumieren schien überhaupt kein Ende zu nehmen, die gute Laune, sozusagen die gefühlte Landestemperatur, war im komfortablen Bereich: Man hatte endlich oder konnte haben, was man schon immer mal haben wollte. Das Sein hing doch sehr vom Haben ab: Erich Fromms Bestseller „Sein oder Haben“ deutete freilich das erste Unbehagen an der Völlerei an – nicht jedoch bei jenen, die nie hatten.

Denn dass das Konsumieren eine schöne Sache ist, wussten die meisten. Fast alle Familienüberlieferungen liefen ja immer auf diesen einen Satz hinaus: „Das konnten wir uns früher nicht leisten.“ Keinen Hunger mehr haben, reisen können: In den Siebzigern pegelten sich alle Tarifverträge auf einen sechswöchigen Urlaub ein. Wann hat es das für die Eltern und Großeltern der damaligen Erwachsenen schon gegeben: in die Ferien fahren, ohne dass die Lohnzahlung aufhört?

Und es gab ja noch Weiteres, was in der Wahrnehmung der meisten Bundesdeutschen keine geringe Achtung hatte: Das Gros der Bundesländer stellte die Lehrmittel, Schulbücher und anderes, gratis zur Verfügung. Überhaupt die Schule: Ende der Sechzigerjahre wurden in den sozialdemokratisch regierten Bundesländern die Aufnahmeprüfungen für das Gymnasium abgeschafft. Auf diese Weise kamen die Kinder der Proleten auch zum Privileg einer besseren Schulausbildung. Wie auch zu akademischen Qualifikationen: In den Sechzigern geplant, wuchsen in den Siebzigern etliche Universitäten heran – selbst in Ruhrgebietsstädten wie Bochum.

Die Förderung des Guten, Wahren, Schönen fand ja auch auf der Ebene des Kulturellen statt, auch wenn es ja davon nie genug geben kann: Theater und Opern öffneten sich mit verbilligten, gesponserten Tickets für den Nachwuchs, andere Institutionen suchten Erwachsenen mit Bildung aufzuhelfen. Und diese, wenn sie wollten, nutzten die Angebote en gros und en détail: Der Markt für Kurztrips am Wochenende zu Theater- und Musicalaufführungen in anderen Städten hatte in jenen Jahren seine Geburt.

Dass die Rekrutierung von Proleten für komplexere Ausbildungsgänge, dass überhaupt alle Bildungs- und Qualifikationsbemühungen nur der Modernisierung eines Industrielandes wie der Bundesrepublik dienten, ist erstens eine rein funktionalistische Deutung – und interessierte zweitens die Begünstigten nicht die Bohne: Man konnte tun, wovon man bislang nicht mal geträumt hatte; man leistete sich, was noch in den Fuffzigern utopisch schien.

Und es war zugleich die Dekade der Party: Nicht allein die vielen Partykeller in den neuen Einfamilien- und Reihenhausscheibchen zeugten davon, sondern das belegen auch die Listen der Konzertveranstalter: Auch ihre Branche wuchs erst mit dem Massenwohlstand. Kurzum: Alles, was Entfremdung bedeutete, liebte das Proletariat – inklusive Geschirrspülmaschine (Oma spülte authentisch noch selbst), Einbauküche (pflegeleicht) und gemahlenem Kaffee (anstrengend, diese Handmühlen), Instantsoße statt Bratensaft (schmeckt auch, gelingt immer), inklusive Sitzplatz im Fußballstadion (es steht sich unbequem, obwohl billiger) und anderen Dingen, die zum Teil heute eher als unschön gelten.

Und zugleich war innerfamiliär nur noch selten üblich, was einst gängig war: Kinder zu züchtigen war ein Zeichen von Schwäche; drakonische Strafen aus Rache galten als suspekt; Frauen zu misshandeln war moralisch durch nichts mehr zu rechtfertigen – selbst an den Stammtischen schlich sich mehr und mehr ein, wenn auch rüder Ton des schlechten Gewissens ein.

Alles, was heute im Zusammenleben zählt, wurde in jenen Jahren begonnen, und zwar auch in proletarischen Milieus: Man wollte gewaltloser miteinander auskommen. Diese Generation der in den Siebzigern erwachsener Gewordenen ist die der Kriegskinder: Sie hatte die Schnauze voll von Gewalt und Bomben – und ihr war es gleichgültig, ob sie guten oder schlechten Zwecken nützten. Man wollte nicht die Aufgeladenheit des revolutionären Elans, und man hasste diese jugendliche Idee von Mission: Das kannte man aus den Erzählungen der Alten, die immer davor warnten, wie es war, als die Nazis und die Kommunisten den Alltag unter Wind hielten.

Freilich, manche ließen sich ein auf Diskussionen um die Anliegen der Radikalen, andere kanzelten – allem Liebreiz im Umgang zum Gegenteil – die Empörung um die, beispielsweise, Zwangsernährung von RAF-Inhaftierten mit den Worten ab: „Die wollen nicht essen? Na, dann haben sie wohl keinen Hunger.“

Die Kriegskindergeneration, irgendwann zwischen 1930 und 1945 geboren, Nachwuchs der Vertriebenen, Opfer von Bombenangriffen, keine Täter und Täterinnen, wollte ihre Ruhe haben. Es herrsche Ruhe im Land? Na, Gott sei Dank. Man war ja nicht gegen ein besseres Leben, im Gegenteil. Man kümmerte sich um die eigene Familie, um die Verwandtschaft, man wählte Willy Brandt 1972 und Helmut Schmidt 1976, weil die Sozialdemokraten für keine moralische Restauration standen, sondern für fast alles, was schöner, friedlicher, zivilisierter und auskömmlicher, auch moderner war als das, was war. Einer sagte mal, 1969 habe für die Liberalen und Linken, mit der Ablösung der Union von der Regierung, die größte Party beginnen können: Es war nicht die der RAF & Co. – also musste sie verdorben werden.

Der „deutsche Herbst“? Wer nichts zu verbergen hat, kann auch nichts gegen Kontrollen haben – so hieß es in den proletarischen Kernschichten. Man wollte feiern und die neuen Zeiten verstehen. Die buchstabierten sich wie Feminismus, Schwule, Alternative, Ökos und Sesamstraße. Dass es überall Zwist, Hader und Verworfenheit gab – aber der Verheißung eines Paradieses namens Sozialismus, in dem Privates nur glücklich sein kann, traute man nicht: Der Westen war einfach – nun: unterhaltsamer. Bunter. Strahlender. Ermöglichender. Dessen Horizonte weiter und der Nahbereich auch okay. Man hatte viel zu kämpfen und sich einzugewöhnen. Die Kriegskindergeneration lernte mit Biss, sich an das zu gewöhnen, was heute selbstverständlich scheint: Dass es nicht nur eine Lebensform gibt, mit der man ein ganzes Leben lang über die Runden kommen kann. Und dass man sich ausprobieren kann.

Im Jahr 1979 kam – über die Kriegskindergeneration wie über die radikale Linke – ein Fernsehereignis, auf das sie beide kaum vorbereitet waren. Die Serie hieß „Holocaust“ und rührte etwas an, das begraben schien. Jetzt war die Party wirklich ziemlich verdorben, für alle. Vielleicht jetzt erst, in Deutschland, aus den richtigen Gründen.

JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, taz.mag-Redakteur, erlebte die Siebziger natürlich auch als schönen Albtraum: Es mag damit zu tun haben, dass jedes Heranwachsen Schreckensbilder vom unentwegt Provisorischen entwickeln möchte