60 Gespräche pro Tag

Soziales Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder unterstützt bei Anträgen für Hilfeleistungen. Der Andrang ist groß, die Kritik an den Behörden auch

Am Beratungstelefon werden die Ex-Heimkinder zuerst gefragt: „Ost oder West?“

Seit diesem Monat können ehemalige Heimkinder Leistungen aus einem extra für sie eingerichteten Fonds beantragen. Eine Entschädigung im eigentlichen Sinne sind diese Mittel nicht, sagt selbst das Team der Berliner Anlaufstelle für ehemalige Heimkinder. Anfang dieser Woche hat die Beratungsstelle im Nachbarschaftshaus Schöneberg mit der Arbeit begonnen.

Erst seit einigen Jahren wird aufgearbeitet, was vor allem die westdeutsche Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre prägte: extreme Benachteiligung und Ausbeutung der Heimkinder und zum Teil massive körperliche, sexuelle und seelische Misshandlung. Seit 2009 berieten Experten und Vertreter von Kirchen, Land, Bund und Opferverbänden an einem runden Tisch, wie mit diesem dunklen Kapitel der Nachkriegsgeschichte umzugehen sei. Ergebnis war die Einrichtung eines Fonds, in den Kirchen, Bund und Länder als einstige Heimbetreiber 120 Millionen Euro einzahlten. Anspruchsberechtigt sind Menschen, die zwischen 1949 und 1975 als Kinder oder Jugendliche in Heimen untergebracht waren. Der runde Tisch hat außerdem die Einrichtung von Beratungsstellen empfohlen, die für die Bewilligung der Ansprüche sorgen sollen.

Berliner Sonderfall

In allen anderen Bundesländern richten die Behörden selbst solche Anlaufstellen ein. „Das sind aber genau die Strukturen, mit denen die ehemaligen Heimkinder so schlechte Erfahrungen gemacht haben“, kritisiert Birgit Monteiro, Leiterin der Berliner Beratungsstelle. Auf Initiative der Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder habe man sich deshalb in Berlin für einen anderen Weg entschieden: ein freier Träger ist Betreiber.

„Das Telefon steht gar nicht still“, sagt Pädagoge Stefan Henn, Mitarbeiter der Beratungsstelle. Bis zu 60 Termine für persönliche Gespräche habe er an einem Tag vergeben. Seine erste Frage sei stets: „Ost oder West?“ Rund die Hälfte der Anrufer müsse er danach vertrösten. Denn Heimkinder aus der DDR waren, genau wie Menschen mit Behinderungen, von vornherein ausgeschlossen. Zumindest für Erstere soll bis zum Sommer eine Lösung gefunden werden.

Der Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder fallen noch mehr Kritikpunkte an der Fondslösung und ihrer Umsetzung ein. So sei zwar die Beratungsstelle unabhängig, aber einer der Beschäftigten sei Bediensteter der Landesjugendbehörde und sein Job abhängig vom Senat. Birgit Monteiro, selbst SPD-Politikerin im Abgeordnetenhaus, versichert, Entscheidungen über die Anträge würden nur im Team gefällt. Im Zweifel werde ein Beirat aus Experten und Opfervertretern zugezogen.

Für besonders großen Unmut bei den ehemaligen Heimkindern sorgt eine Erklärung, die die Betroffenen bei Beantragung der Leistungen unterzeichnen sollen. Darin verzichten sie für die Zukunft auf alle weiteren Ansprüche. Peter Schruth, Professor für Rechtswissenschaften in Magdeburg, bezeichnet die Verzichtserklärung als unsensibel, überflüssig und gegebenenfalls sittenwidrig. Birgit Monteiro von der Beratungsstelle lehnt sie ebenfalls ab.

Insgesamt könnten die Leistungen aus dem Fonds die Folgen der Heimerziehung nur abmildern, sagt Monteiro. Die Heimkinder selbst fordern deshalb die Einrichtung einer Opferrente von 300 Euro monatlich, um die Folgeschäden fehlender schulischer und beruflicher Bildung auszugleichen.

■ Am heutigen Mittwoch Stunden der offenen Tür von 15.30 Uhr bis 17.30 Uhr, Nachbarschaftshaus Schöneberg, Holsteinische Str. 30, Tel.: 85 99 51 66