: Übersicht verloren
Christoph Daums Fenerbahce verliert ein dramatisches Istanbuler Derby gegen Besiktas mit 3:4
ISTANBUL taz ■ Der Bosporus verbindet Europa und Asien, aber er trennt die Fußballfans. Mit Fährschiffen kamen die Anhänger von Besiktas Istanbul über die Meerenge nach Asien, Leuchtraketen schießend und Rettungsringe ins Wasser werfend. Unter Polizeischutz wurde dieser wilde Mob dann in überfüllten Bussen zum Stadion gekarrt. Steine werfende Fenerbahce-Fans säumten den Weg. Die Busse hatten bald keine Scheiben mehr, aber viele Dellen. Als sie leer und unter dem Beifall der „Fener-Fans“ wieder vom Stadion abfuhren, sahen sie wie einem Mad-Max-Film entsprungene Wracks aus. Jagdszenen spielten sich in den Gassen Kadiköys ab, und die berüchtigten „Amigos“, kriminelle Vorsteher von Fanklubs , verteilten von den Vereinen erhaltene Freikarten wie eh und je, obwohl dies seit letztem November nach einem Mord im Besiktas-Stadion verboten ist.
Umso verwunderlicher, was sich direkt nach dem Abpfiff dieses denkwürdigen Istanbuler Derbys zwischen Fenerbahce und Besiktas am Sonntagabend im Sükrü-Saracoglu-Stadion ereignete. Für Sekunden herrschte eine bedrohliche Stille in den Kurven der Fenerbahce-Fans, und man dachte, der Zorn über die Verlierer würde sich nun Bahn brechen. So oft hat man das erlebt. Wer in Istanbul ein Derby verliert, dem drohen nicht selten Prügel. Doch diesmal war für einen magischen Moment alles anders. Fenerbahce 3, Besiktas 4 lautete das Ergebnis. Doch die „Fenerli“ applaudierten. Sie applaudierten leise und anerkennend. Den Verlierern und den Siegern. An eine solch warmherzige Szene in einem türkischen Fußballstadion konnte sich kaum jemand erinnern. Die Dramaturgie eines leidenschaftlichen Fußballspiels schuf unerwartet und wunderbar versöhnliche Sekunden der Fairness.
Beim Stand von 3:2 für seine Mannschaft verursachte Besiktas-Torhüter Córdoba in der 84. Minute nicht nur einen Elfmeter, sondern meckerte sich auch noch zu einer gelb-roten Karte. Das Auswechselkontingent war erschöpft, und so stellte sich der rumänische Stürmer Daniel Pancu ins Besiktas-Tor. Den Elfmeter des Brasilianers Alex konnte er aber nicht verhindern. Ausgleich, Überzahl, der Gegner mit einem Feldspieler im Tor – da schien für die tobenden „Fener“-Fans der Siegtreffer abgemacht. Doch es kam anders: Der kopflos anrennende Tabellenführer fing sich in der sechsten Minute der Nachspielzeit noch das entscheidende vierte Tor durch Koray Avci ein.
„Am Ende agierten wir überhastet, sind uns selber im Weg gestanden und haben die Übersicht verloren“, analysierte Fenerbahce-Trainer Christoph Daum. Vier Punkte Vorsprung hat sein Team nun bei sechs ausstehenden Spielen nur noch vor Verfolger Galatasaray, der 3:1 bei Sebatspor gewann. Obwohl braun gebrannt, musste Daum kreidebleich konstatieren: „Das Meisterschaftsrennen ist wieder offen.“ Seine Vertragsverlängerung wohl auch.
Alle Derbys hat seine Mannschaft in dieser Saison verloren und sich zudem nach dem Champions-League-Aus auch gegen Real Zaragoza unrühmlich aus dem Uefa-Cup verabschiedet. Die Meisterschaft scheint für Christoph Daum ein Muss im zähen Millionenpoker, der von Verein und Trainer beschwiegen wird. Gestern beherrschten noch die Legenden um die dezimierten Helden von Besiktas die Schlagzeilen, doch die Spekulationen um den deutschen Trainer werden spätestens heute wieder beginnen. Sein wichtigster Verbündeter, Fenerbahce-Präsident Aziz Yildirim, beschimpfte direkt nach dem Spektakel die ihn mit Gesängen verhöhnenden Besiktas-Fans und verlangte von seinem Kollegen Yildirim Demirören, die Übeltäter zu bestrafen.
Erst neulich waren die Vereinsoberen der vier großen türkischen Klubs – Besiktas, Galatasaray, Fenerbahce und Trabzonspor – einer Einladung von Verbandsboss Levent Bicakci gefolgt. Auf dem „Friedensgipfel“ wurde beschlossen, gegenseitige Beleidigungen und Anschuldigungen künftig zu unterlassen, um die ohnehin aggressive Stimmung auf den Rängen nicht noch mehr anzuheizen. Fenerbahce-Präsident Aziz Yildirim fehlte aber beim „Friedensschluss“ und eröffnete am Sonntag wieder das Feuer – nur wenige Minuten nach den wundersamen Sekunden der Fairness.
TOBIAS SCHÄCHTER