: Von der Vision zur Strategie
Fischer im Dienst (3): In seiner „Humboldt-Rede“ hat der Außenminister seinen Traum von Europa präsentiert. Was er heute über die EU denkt, werden wir erst später erfahren
Im Mai 2000 hatte Joschka Fischer noch Großes mit Europa vor. Die Rede, die er damals in der Berliner Humboldt-Universität hielt, benutzen Euro-Enthusiasten bis heute als Blaupause, wenn sie die politische Zukunft des Kontinents skizzieren. Doch der Autor der berühmten Humboldt-Rede hat sich von seinen eigenen Thesen abgewandt.
Seither ist ja auch eine Menge geschehen. Unser Blick auf die Welt hat sich radikal verändert. Wie sehr, zeigt die Tagesordnung von zwei Azorengipfeln. Der erste, in Fischers Redetext am Rande erwähnt, fand im Mai 2000 unter portugiesischer Präsidentschaft statt. Nachrichten darüber landeten eher auf den bunten Seiten der Zeitungen: Der EU-Außenbeauftragte Solana wurde nach Manila geschickt, um die Familie Wallert zu retten. Beim Familienfoto wollte keiner neben der österreichischen Außenministerin Benita Ferrero-Waldner stehen – damals wurde Österreich gerade wegen Haiders Regierungsbeteiligung diplomatisch geächtet.
Erst drei Jahre später wurde die ehemalige Kolonie berühmt. Der portugiesische Regierungschef Barroso versammelte auf den Azoren eine Koalition der Willigen, um den Irakkrieg einzuläuten. Zu der Zeit hatte ein Konvent in Brüssel seine Arbeit an der ersten Europäischen Verfassung fast beendet. Die Regierungschefs beteiligten erstmals die Parlamente an einer Vertragsreform, weil sie allein die Union nicht wieder handlungsfähig machen konnten. Dass sie eine für EU-Verhältnisse so radikale Entscheidung trafen, lässt sich nur mit dem Schock des 11. September erklären. Angesichts der Bilder aus New York musste kleinliches Gezänk um Familienfotos lächerlich wirken. Europa wollte eine eigenständige Rolle in der Welt.
Auch Fischer ging es bei seiner Humboldt-Rede um einen Verfassungsvertrag, der Grundrechte, gleichgewichtige Gewaltenteilung zwischen den EU-Institutionen und die Abgrenzung zwischen der europäischen und der nationalstaatlichen Ebene gewährleisten sollte. Allerdings glaubte er damals, eine Vision zu entwerfen, die frühestens in einer Dekade Realität würde. Sollte die EU als Ganzes zu einem derart kühnen Schritt mittelfristig nicht in der Lage sein, müsse ein harter Kern, ein für alle offenes Gravitationszentrum, in der Entwicklung vorangehen. Vor allem dieses Konzept eines Gravitationskerns war es, das damals in der öffentlichen Debatte Furore machte. Da Fischer in seiner Rede gleichzeitig die enge Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich, ihre Rolle als Motor der Union betonte, war klar, dass diese beiden Gründungsstaaten den innersten Kern des Gravitationszentrums bilden sollten.
Knapp fünf Jahre nach dem Humboldt-Auftritt hat die rasante Entwicklung der Union Fischers Rede eingeholt. Erstaunlich viele Elemente seiner Vision finden sich im Verfassungsentwurf, der nicht etwa mehr als eine Dekade, sondern nur ein paar Jahre auf sich warten ließ. Derzeit steht er in den nationalen Parlamenten oder in Volksabstimmungen zur Entscheidung. Ausgerechnet Frankreich, das von Fischer als Teil der Avantgarde ausersehen war, droht die Verfassung Ende Mai in einem Referendum scheitern zu lassen.
Vom Autor der Humboldt-Rede hört man dazu wenig. Das liegt nicht nur an Fischers innenpolitischen Sorgen, sondern daran, dass er Europas Rolle in der Welt grundlegend anders bewertet als vor fünf Jahren. Von einem Kerneuropa will er nichts mehr wissen, vielmehr sollen alle sich im Rahmen der Verfassung im gleichen Tempo vorwärts bewegen – inklusive Kroatien, der anderen Balkanstaaten und der Türkei.
Die interessante Frage lautet, was den Meinungsumschwung beim Außenminister bewirkt hat. Noch im Sommer 2003, am Ende des EU-Konvents zur Verfassungsreform, saß in diesem Gremium als Vertreter der Bundesregierung genau der Joschka Fischer, der die Humboldt-Rede geschrieben hatte. Zu diesem Zeitpunkt war der Irakkrieg schon einige Wochen alt. Die Spaltung zwischen Teilnehmern des Azorengipfels und Kriegsgegnern, die harte Konfrontation zwischen altem und neuem Europa, machte auch vor diesem Nukleus einer verfassunggebenden Versammlung nicht Halt. Dennoch warf der deutsche Außenminister sein ganzes Gewicht in die Waagschale, um einen gemeinsamen europäischen diplomatischen Dienst im Text zu verankern.
Die Abkehr vom europäischen Traum kam später. Als Joschka Fischer die Öffentlichkeit damit vertraut zu machen begann, dass er sich von Kernaussagen seiner berühmten Humboldt-Rede distanzieren würde, lag der Terroranschlag auf die New Yorker Twin Towers schon über zwei Jahre zurück. Im Februar 2004 antwortete er der Berliner Zeitung fast beiläufig auf die Frage, ob er noch seiner eigenen Meinung sei: Einige Teile dieser Rede würde er heute nicht mehr so schreiben. Die strategische Dimension der europäischen Einigung habe in seiner Weltsicht deutlich an Gewicht gewonnen.
Fischers nachgeschobene Erklärung, die Pläne zur Vollendung Europas, die aus den Ereignissen vom November 1989 geboren wurden, hätten den harten Realitäten vom September 2001 weichen müssen, ist nicht stimmig. Dazu kam sein Umschwung viel zu spät. Drei Deutungen sind denkbar: Die Überzeugung, dass Europas Rolle in der Welt mit einer Außengrenze zum Irak hin besser auszufüllen wäre als ohne die Türkei, könnte allmählich gewachsen sein. So stellt er die Sache selber dar. Die zweite Möglichkeit: Fischer könnte in seiner Rolle als Intellektueller, der sein Handeln stets erklären muss, den aus dem Bauch getroffenen Weichenstellungen des eigenen Kanzlers hinterherräsonieren. Schröder bemüht sich derzeit, die amerikanischen Freunde nicht durch europäisches Einheitsstreben weiter zu verärgern. Oder der traditionell geostrategisch denkende Beamtenapparat im Auswärtigen Amt, der sich der Achse Berlin–Ankara historisch verpflichtet fühlt, hat Fischer stärker als früher im Griff.
Vor allem dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen, wenn auch das Werben um die Mitarbeiter wenig genützt hat, wie der Außenminister dieser Tage erkennen muss. Die Begründungsnöte, in die ihn Schröders Eingebungen stürzen, tun ein Übriges. In diesen schwierigen Zeiten muss der Privatmann Fischer, der für die Dauer einer Rede aus der Rolle des Außenministers schlüpfte, seine Meinung für sich behalten. Was er über die Entwicklung Europas denkt, werden wir vorläufig nicht mehr erfahren.
Doch erfolgreiche Politiker sind anpassungsfähig. Die Spekulationen darüber, ob er der erste richtige Europäische Außenminister werden könnte, sind zwar verstummt. Doch auf diesem Posten sitzt bis 2009 ohnehin Javier Solana. Wenn danach Joschka Fischer von Berlin nach Brüssel umziehen sollte, könnte er die Humboldt-Rede wieder aus der Schublade holen. Was in einer solch kurzen Zeitspanne alles passieren kann, lehrt die Geschichte von den zwei Azorengipfeln.
DANIELA WEINGÄRTNER