: Vom Tahrirplatz lernen
REVOLUTION Ägypten zeigt, wie man ein breites Bündnis schmiedet, warum Theorie keine Rolle spielt und warum die Revolte auch hier notwendig ist
VON JULIANE SCHUMACHER
Acht Monate lang war ich in Kairo, habe die manchmal sehr ruhigen, oft aber atemlosen Momente auf und um den Tahrirplatz erlebt. Ich habe die unbändige Freude und die Freiheit der ersten Monate nach der Revolution mitbekommen, den Schock und die Verletzungen, als das Militär, auf das die Bewegung zu Beginn alle Hoffnung gesetzt hatte, sich als brutale Fortsetzung des alten Regimes entpuppte. Ich habe die Rückkehr der Angst erlebt, den verzweifelten, zermürbenden und doch unermüdlichen Kampf um die Revolution über die ersten Monate hinaus. Ich war in diesen Monaten überall dabei, manchmal als Beobachterin, manchmal als Aktivistin, ich habe mich nie „außen“ gefühlt, auch wenn ich als weiße Europäerin natürlich oft eigentlich ein „Außen“ war.
Ich behalte: einen Wechsel der Blickrichtung, ein Kopfschütteln über mich selbst, auch eine gewisse Entfremdung von den linken Bewegungen, in denen ich lange aktiv war. Die Frage, wie wir die Menschen dort unterstützen können, ist der Frage gewichen, was wir von ihnen lernen können. Denn auch wenn wir uns vieles gegenseitig beibringen können: Immerhin haben die Menschen dort eine Revolution gemacht – und wir nicht.
1. Alles ist möglich
Nichts ist vorhersehbar. Und die Veränderung kommt immer von dort, wo man sie am wenigsten erwartet.
2. Revolution braucht keine Theorie
Niemand muss den Menschen beibringen, wie sie sich (basis-) demokratisch organisieren, erst recht nicht von oben oder außen. Die meisten Menschen auf dem Tahrirplatz hatten nie eine politische Theorie studiert. Und doch organisierten sie sich selbstverständlich auf eine derart basisdemokratische Art, dass es jedes linke Camp mit seinen Tausenden von Regeln zur Hierarchie-Minimierung zur Ehre gereicht hätte. Und warfen ohne jede Diskussion jeden hinaus, der im Name einer Partei, einer Theorie, im Namen anderer sprach oder sich zu sehr in den Vordergrund drängte – sei er salafitischer Scheich, Präsidentschaftskandidat oder besonders aktiver Aktivist. Ist nicht das Naserümpfen über die „Theorielosigkeit“ und „Ungebildetheit“ von Protestierenden ein Zeichen von Hilflosigkeit? Hilflosigkeit derer, die ihre eigene soziale Stellung in Gefährdung geraten sehen, wenn auf einmal wirklich jeder unabhängig von seiner formalen Bildung gleichberechtigt mitreden darf? Die Forderung nach Bildung war eine Folge der Revolution. Sie war keine Bedingung für deren Erfolg.
3. Mensch sein statt Individuum
Die europäische Linke definiert sich über die Abgrenzung von anderen, über Definitionen, Kategorien. Auf dem Tahrirplatz gab es hingegen eine absolute Offenheit, eine einschließende und nicht ausschließende Atmosphäre. Dort trafen sich Menschen, die zuvor nie im Leben miteinander geredet hätten – der Muslimbruder und die unverschleierte junge Frau, Arme und Reiche, Alte und Junge. Und alle gingen jenseits von allen Vorurteilen als Menschen aufeinander zu, redeten miteinander, hörten einander zu. Dieser absolute Respekt füreinander jenseits von gesellschaftlicher Stellung, Bildung, Religion oder Nichtreligion hat sich denen, die ihn miterlebt haben, zutiefst eingeprägt.
Der Kern der Revolution war dieses zutiefst menschliche Miteinander, dieses Mitgefühl, das die gemeinsame menschliche Verletzlichkeit zum Ausgangspunkt nahm und Menschen dazu brachte, über sich selbst hinauszuwachsen. „Da waren Muslimbrüder, die hätten mit mir sonst nicht einmal geredet“, erzählt Minna, eine 17-Jährige, „und die hörten mir zu. Die diskutierten mit mir!“
Umgekehrt erzählte mir ein junger Mann aus einer eher wohlhabenden Familie geschockt, wie er von den Muslimbrüdern von den brutalen Folterungen erfahren hat, denen diese in den Gefängnissen der ägyptischen Geheimpolizei ausgesetzt waren. Dadurch begann sein Glaube zu bröckeln, der starke Staat sei in dieser Form nötig, um den „islamistischen Terror“ im Griff zu haben. Diese „Sprache des Tahrir“ war definitiv ein Erfolgsmoment der Revolution. In dem Moment, als es der Militärregierung gelang, die alten Spaltungen, die die Gesellschaft trennten und im Griff hielten, wieder aufbrechen zu lassen, verlor die Bewegung ihre Kraft.
4. Herz statt Verstand
Demokratische Freiheiten! Eine liberale Revolution! So jubelten die westlichen Medien im Februar. Und die Linke widersprach: Nein, das ist eine soziale Revolution! Doch beides traf nie zu. Die Trennung zwischen sozialen und liberal-demokratischen Forderungen war der Bewegung ebenso fremd wie die Trennung zwischen den religiösen und nichtreligiösen Teilen der Bewegung.
„Die Revolution der Würde“ haben die Ägypter ihren Aufstand genannt. Vielleicht kann man Würde erst schätzen, wenn sie verletzt worden ist. Die Ägypter hatten genug Erfahrung mit erniedrigender Armut, mit permanenter Demütigung durch Folter und mit Willkür vonseiten der Polizei, um ein Gespür für „Menschsein“ zu entwickeln, das vielen europäischen Linken fehlt. Die Menschen auf dem Tahrirplatz kannten die Ohnmacht und Erstarrung, die aus der Ausweglosigkeit erwächst. Sie wussten, wie es sich anfühlt, von außen – vom Westen –, nur als unterdrücktes Objekt bemitleidet oder als potenzielle Bedrohung gefürchtet zu werden. Diese Revolution findet nicht fernab von uns statt, sondern in offener Auseinandersetzung mit den entwürdigenden Bedingungen des globalen Kapitalismus, Rassismus und Kolonialismus. Würde heißt, über die Forderungen nach einem Leben in Würde hinaus für sich selbst zu sprechen, selbst zu entscheiden und zu handeln und über die nötigen sozialen Bedingungen als auch politischen Freiheiten zu verfügen. Sich das zurückerobert zu haben war für viele junge Menschen in Ägypten so wertvoll, dass sie, ohne zu zögern, ihr Leben aufs Spiel setzten. Man kann den Begriff der Würde als altmodisch abtun – besser sollten wir uns fragen, warum wir, die Privilegierten des globalen Systems, ihn mit unseren Theorien und Politikansätzen so wenig fassen können.
5. Auch wir brauchen die Revolution
Manche Aspekte des demokratischen Systems in Deutschland habe ich im Vergleich mit Ägypten durchaus zu schätzen gelernt. Und doch ist die Revolution hier nicht weniger nötig. Nicht nur, weil erst das den Revolutionen dort wirklich helfen würde. Sondern auch, weil hier dasselbe Gefühl von Entwürdigung, von Ausschluss und Überflüssigsein herrscht. Und in unserer Gesellschaft, in der die Leistungsideologie jedes Scheitern, jede Schwäche als individuelle Schuld brandmarkt und die Scham noch verstärkt, muss der Verlust von Würde fast noch unerträglicher sein.
Ich behalte, schließlich, eine tiefe Bewunderung für den Mut und die Entschlossenheit all der jungen Menschen, die sich auf dem Tahrirplatz ihre Würde zurückerkämpft haben und weiter kämpfen. Und die feste Überzeugung, dass die Ansätze zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft nicht aus deren Zentren kommen werden.
■ Die Autorin ist seit Dezember Berlin-Redakteurin der taz