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Archiv-Artikel

Ohne Bulimie im Becken

SCHWIMM-WM Von der allerneuesten Schwimmanzug-Generation profitieren vor allem die Frauen – wie die deutsche Rücken-Weltrekordlerin Daniela Samulski. Aber warum?

Weiter schnell im Wasser

Die Rekordflut in Rom geht weiter: In den vier Finals vom Montagabend fielen allein drei Weltrekorde. Brenton Rickard aus Australien brauchte für 100 Meter Brust nur 58,58 Sekunden, die Amerikanerin Ariana Kukors verbesserte über 200 Meter Lagen in 2:06,15 Minuten ihre eigene Bestzeit aus dem Halbfinale deutlich. Gleiches gelang der erst 15-jährigen Schwedin Sarah Sjöström: In 56,06 Sekunden war sie über 100 Meter Schmetterling gleich 38 Hundertstel schneller als im Rennen zuvor.

Bei den Vorläufen am Dienstag hielten sich die Athleten dann allerdings vergleichsweise zurück: Der Italiener Federico Colbertaldo schwamm über 800 Meter Freistil in 7:44,29 immerhin neuen Europarekord. Ein neuer deutscher Rekord gelang gestern dem Essener Hendrik Feldwehr über 50 Meter Brust in 27,25 Sekunden.

AUS ROM ANDREAS MORBACH

Bei Anne Forsell endete der Selbstversuch nach zwanzig Minuten. Die blonde Trainerin des schwedischen Schwimmteams zeigt mit der rechten Hand auf eine Stelle kurz unter ihrer Hüfte: „Bis hierher bin ich gekommen, dann habe ich aufgegeben.“ Das topmoderne X-Glide-Modell des Bademodenherstellers Arena schmiss die etwas beleibte Dame in die Ecke, schlüpfte lieber wieder in ihren gelb-blauen Coach-Dress und sah zu, wie den schwedischen Bahnenziehern beim Trainingslager vor der WM massenhaft Anzüge rissen. „Insgesamt 15 haben den Geist aufgegeben. Allein mir sind drei gerissen – erst am Oberschenkel, dann am Bauch, dann wieder am Oberschenkel“, erzählt Sarah Sjöström – doch Übung macht bekanntlich den Meister.

In ihrem Fall sogar eine Weltmeisterin, inklusive zwei Weltrekorden über 100 Meter Schmetterling in Rom. Keine Geringere als die längst zurückgetretene Niederländerin Inge de Bruijn katapultierte Sjöström aus der Rekordliste – und das im zarten Alter von gerade mal 15 Jahren.

„Überrascht hat uns das nicht, wir haben seit einem Jahr auf diese Leistungen gewartet“, sagt Anne Forsell, die Sjöström bis vor zwei Jahren in Soderton nahe Stockholm trainierte, demonstrativ lässig. Noch zieren einige Pickel das Gesicht und die Oberarme der schnellen Teenagerin, die aber ganz schön fuchsig werden kann, wenn jemand ihre Rekorde mit dem blaugrün schimmernden Kunststoffwunder an ihrem Körper in Verbindung bringt. „Das hier hat nicht mein Anzug geschafft, sondern ich“, sagt sie, und ihre Augen blitzen dabei ein kleines bisschen gefährlich.

Kurz vor der WM sei Sjöström, sagt Trainerin Forsell, bereits persönliche Bestzeit geschwommen – in einem stinknormalen Textil am schlanken Leib. Dabei wollte die junge Frau mit 13 Jahren eigentlich schon mit dem Schwimmen aufhören und lieber mit ihren Freundinnen in Stockholm feiern.

Das nicht gerade ungetrübte Verhältnis zu ihrem Sport verbindet die strohblonde Schwedin mit ihrer deutschen Kollegin Daniela Samulski. Die gebürtige (Ost-)Berlinerin ist zwar zehn Jahre älter als Sjöström, aber auch sie gehörte schon mit 15 schon zu den Topschwimmerinnen, musste dann aber einige sportliche Enttäuschungen verarbeiten. Samulski definierte sich damals fast ausschließlich über ihre Leistungen im Pool – ein Ergebnis dieser Fahrt in der Einbahnstraße waren ernsthafte Essstörungen.

Samulski litt an Bulimie – und lernte dann, sich als vielschichtige Persönlichkeit zu begreifen. Bei der WM-Qualifikation vor einem Monat in ihrer Heimatstadt war sie innerlich und sportlich so weit gereift, dass sie, unterstützt von modernster Badebekleidung, einen Weltrekord über 50 Meter Rücken ins Wasser zauberte.

Neun der elf Weltbestleistungen, die an den ersten beiden Tagen in Rom fielen, gehen auf das Konto von Frauen

Ihre Zeit von 27,61 Sekunden, erzielt am 26. Juni, krönt noch immer die Rekordliste für diese Distanz. Womöglich nicht mehr lange: Denn heute stehen im Foro Italico die Vorläufe und Halbfinals über 50 Meter Rücken auf dem Programm, am Donnerstag das Finale. Und Samulski sagt: „Eine Medaille sollte am Ende schon für mich herausspringen.“

In Berlin waren die Hauptgefreite der Sportfördergruppe in Warendorf und Freistilspezialistin Britta Steffen diejenigen, die dem DSV gleich drei globale Bestzeiten bescherten. Doppel-Olympiasiegerin Steffen hat beim ihrem Einzelweltrekord als Startschwimmerin der 4x100-Meter-Staffel mit der Raserei am Sonntag gleich weitergemacht – und steht dabei in Rom in einer stolzen Reihe von Schwimmerinnen: Neun der elf Weltrekorde, die an den ersten beiden WM-Tagen in Rom fielen, gehen auf das Konto von Frauen.

„Die Bestzeiten bei uns wechseln wirklich unentwegt“, staunt selbst die mitverantwortliche Sarah Sjöström über diese rasante Entwicklung. Das alles ist kein Zufall, glaubt die schwedische Trainerin Forsell. „Es kann schon sein, dass diese neuen Anzüge Frauen mehr Vorteile verschaffen als Männern“, meint sie, ohne aber wirklich sagen zu können, woran genau das liegen mag. Wesentlich simpler ist dagegen Forsells zweite Erkenntnis. „Im letzten Jahr“, sagt sie, „haben die Männer ständig Weltrekorde ausgelöscht. Und jetzt sind eben die Frauen an der Reihe.“