: „Die Schwellenangst ist größer“
Die Rheinischen Kliniken in Langenfeld eröffnen heute die erste psychiatrische Ambulanz für türkische Migranten in NRW. Die taz sprach mit Chefarzt Wolfgang Schwachula und Oberarzt Murat Ozankan
INTERVIEW: LUTZ DEBUS
taz: Heute wird in Langenfeld die erste psychiatrische Ambulanz für Migranten eröffnet. Warum gibt es erst jetzt ein solches Angebot, das sich speziell an Migranten richtet? Wolfgang Schwachula: Wir haben hier immer schon Migranten im normalen Betrieb, das heißt ambulant, tagesklinisch und stationär behandelt. Oft stellte sich dann die Frage der ambulanten Weiterversorgung. Ozankan: In ganz Nordrhein-Westfalen gibt es nur vier niedergelassene türkischsprachige Psychiater, die sind völlig überlastet.
Sie bieten Migranten nur ambulante Behandlung an, keine stationäre.
Schwachula: Wir planen Stationen, auf denen etwa acht Plätze speziell für Migranten vorgesehen sind. Andere Kliniken, wie die in Marburg, die Stationen für Migranten planten, machten die Erfahrung, dass es sinnvoll ist, keine reinen Migrantenstationen zu errichten. Es wird auf diesen Stationen dann oft nur noch die Heimatsprache gesprochen. Die reale Situation des Migranten wird ausgeblendet.
Aber auch Sie bieten nun eine besondere Behandlung für Migranten. Ist Multikulti in der Psychiatrie gescheitert?
Ozankan: Ich sehe dieses multikulturelle Scheitern dort, wo Informationen über psychische Erkrankungen und deren Behandlung den hier lebenden Türken nicht vermittelt oder von diesen nicht angenommen beziehungsweise abgefragt wurden. Gleichzeitig spielen der islamische Volksglaube und die dazugehörigen Vorstellungen zu Gesundheit und Krankheit eine große Rolle, so dass viele türkische Migranten mit Gesundheitsproblemen zuerst oder parallel zur medizinischen Behandlung Hocas, also volkskundliche Heiler, in Anspruch nehmen.
Gibt es kulturell geprägte Krankheitsbilder?
Ozankan: Depression ist Depression, Schizophrenie ist Schizophrenie. Die Krankheiten sind die gleichen. Der Krankheitsbegriff ist ein anderer. In Deutschland definiert sich Krankheit stark an der Arbeitsfähigkeit. Im Orient, gerade in ländlichen Gebieten, stehen andere soziale Werte im Vordergrund.
Sind Menschen türkischer Abstammung in unserem Land über- oder unterdurchschnittlich oft psychisch krank?
Schwachula: Sie werden häufiger krank, werden aber seltener behandelt. Die Schwellenangst, sich in einem Gastland in Behandlung zu begeben, ist sehr viel größer. Es gibt Probleme mit der Sprache. Es ist auch schwer, sich kulturell in den anderen einzufühlen. Wenn ich früher mit türkischen Familien zusammen saß, dann hatte ich manchmal keine brauchbare Idee, warum alle schweigen. Da sprang ich locker von einem Fettnapf in den nächsten und wusste es überhaupt nicht.
Kann Heimweh eine manifeste psychiatrische Störung werden?
Ozankan: Weniger das Heimweh. Aber viele Träume von Migranten erfüllen sich nicht. „Nächstes Jahr bin ich wieder in der Türkei.“ Das war für viele ein Trugschluss. Da entsteht dann ein Gefühl des Versagens. Ein großer Teil der Migranten ist erheblichen Stressfaktoren ausgesetzt, dazu gehören Entwurzelung, Ohnmachtsgefühle, Rollenverluste oder die Ungewissheit über die Zukunft. Kinder wuchsen nicht bei ihren Eltern auf, sondern in einem ganz anderen Land, wurden dann nachgeholt. Oft kommt es zur Zerrissenheit und Trennungen der Familie und damit verbunden zu psychischen Belastungen der Familienmitglieder, die innerfamiliäre Konflikte auslösen.
Schwachula: Wenn Jugendliche, die sich ja oft aus der Familie in die Gesellschaft abzulösen beginnen, mit ihrer Familie umgezogen werden und dann erkranken, reagieren die Eltern oft mit Schuldgefühlen.
Worunter speziell leiden muslimische Frauen?
Ozankan: Etwa Zweidrittel aller Patienten bei uns sind Frauen. Viele leiden unter Depressionen. Die Heimat und Familie, die sie verlassen haben, manchmal auch verlassen mussten, vermissen sie. Manche Frau hatte die Illusion, es werde ihr in Deutschland gut gehen. Genau das passierte dann nicht. Es werden oft junge Frauen aus der Türkei mit jungen Männern der zweiten Migrantengeneration verheiratet, damit die Tradition fortleben kann. Schwachula: Wenn Jungen aus der zweiten Generation psychische Probleme haben, dann plant die Familie oft deren Heirat mit einer Frau aus der Türkei. Die werde das Problem dann schon wieder in Ordnung bringen.
Welche sind die konkreten Probleme, unter denen türkische junge Männer leiden?
Schwachula: Die Jungen werden ganz oft noch als die lieben kleinen Paschas erzogen. Wenn sie psychische Probleme bekommen, ist spätestens dann diese Rollenzuweisung nicht mehr zweckdienlich. Die Frauen sind da in der Regel viel lebenstüchtiger.
Aber Sie behandeln nur ein Drittel Männer. Zwei Drittel ihrer PatientInnen sind Frauen.
Schwachula: Das ist bei Deutschen auch so. Nicht alle, die psychotherapeutische Hilfe benötigen, kommen zu uns. Frauen thematisieren viel eher Probleme, Männer verdrängen sie oft.
Wie wird sich die psychiatrische Behandlung von Migranten in Zukunft entwickeln?
Schwachula: In zehn, fünfzehn Jahren wird es hoffentlich so viele niedergelassene muttersprachliche Psychiater geben, dass ein Angebot wie das unsere überflüssig wird.