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Archiv-Artikel

1.400 Kilometer Freiheit

Mit dem Fahrrad von Essen ans Mittelmeer: Wer Freunden solche Pläne auftischt, erntet zunächst Spott – besonders, wenn das Rad auch noch fehlt. Der Neid kommt später. Ein Erfahrungsbericht

VON ANDREAS WYPUTTA

Der Anfang ist Gelächter. „Ja klar, Du fährst mit dem Fahrrad ans Mittelmeer.“ Mein Freund Jochen grinst. „Am besten startest Du hier in Essen?“ Offensichtlich hält der Typ meine Urlaubspläne für einen guten Witz – was mich ziemlich ärgert. Okay, mit manchem hat er ja recht: Seit mindestens fünf Jahren bin ich keine längere Strecke mehr mit dem Rad gefahren. Trainiert sieht anders aus, sagt mir der Blick in den Spiegel. Und ein passendes Rad, dass mich zu meinem Ziel in Arles am Rand der Carmargue tragen soll, ist auch nicht da. Trotzdem verwandeln mich gerade die dummen Sprüche in ein wandelndes „jetzt erst recht“.

Überhaupt: In den Achtzigern bin ich bereits zwei Mal quer durch Frankreich gefahren. Und ich kenne Burkhard, einen der besten Fahrradschrauber des Ruhrgebiets. Was folgt, ist eine Odyssee durch alle größeren und kleineren Fahrradläden des Reviers, ein Ausflug zu dem großen Versandhandel im beschaulichen Bocholt inclusive. Nach drei Tagen haben wir die Teile zusammen. Nach weiteren drei Tagen und ungezählten Flüchen Burkhards, der erst jetzt bemerkt, dass ich nicht der geborene Zweiradmechaniker bin, sitze ich auf meinem Reiserad – und es hatte sich gelohnt: Kein Vergleich zu den Möhrchen der letzten Jahre. 20 Stundenkilometer ohne jede Kraftanstrengung sind kein Problem, die Straße fliegt unter mir vorbei.

Start am nächsten Morgen, oder besser gesagt, am nächsten Mittag: Natürlich habe ich getrödelt. Umso schöner ist es, mitten durch den Duisburger Innenhafen zu fahren, in Moers Richtung Süden abzuknicken, um acht Uhr abends hinter Erkelenz einfach in irgendeinem Wald zu übernachten. Denke ich jedenfalls – besonders gut schlafen lassen mich die ganzen Geräusche nicht. Am nächsten Mittag Aachen. Warum habe ich die Eifel vergessen? Warum weiß ich nicht, wie hügelig die Gegend um Lüttich ist? „You did Liège, you are a hero“, werde ich später hören. Am Ende reicht es nur bis Eupen. Nach vier Tagen, nach nur vier Tagen steht „France“ auf dem Straßenschild, auf den alten Grenzsteinen. Im Tal der Maas geht es weiter Richtung Givet, das erste kleine Städtchen hinter der Grenze. „Sie sind der Deutsche, der mit dem Fahrrad gekommen ist“, sagt der Lebensmittelhändler und lächelt.

Ich liege im Schotter. Die Gedanken rasen. Das Knie werde ich so schnell nicht mehr benutzen können. Bestenfalls ist nur das Bein gebrochen. Nach nur sechs Tagen am Ende – trotz schlechten Wetter los- und dann noch zu viel schnell gefahren. Es folgt die Bruchlandung im Dreck. Bitterer kann es nicht werden, denke ich, und taste an mir herum. Und – es ist nichts. Sogar das Rad hat kaum etwas abgekriegt: Die dicken Packtaschen haben uns gerettet. Uns? Offensichtlich bin ich seit kurzem zu zweit unterwegs – mein Fahrrad und ich.

Die Champagne zieht vorbei. In den Georges, den Schluchten der Loire applaudieren die Touristen, ich lächle gequält: Wieder hätte ich mir das Auf und Ab weniger hart vorgestellt. Bei Roanne geht es über den Col de la Gachet ins Rhonetal, von 400 auf 1.100 Höhenmeter und wieder hinunter. Der arbeitslose Designer, jetzt Pilger auf dem Jacobsweg, tut mir leid – er schafft höchstens 30 Kilometer am Tag. Wie er fühle ich jede kleine Steigung, rieche die Pflanzen, sehe aber mehr. Im Rhonetal bläst der Mistral, mit dem starken Rückenwind schaffe ich 140 Kilometer. Das ist auch nötig: Die vier Wochen Zeit sind dahingeschmolzen, bis zum Meer bleiben nur noch vier Tage.

Zwei Tage später ist endlich Arles in Sicht. Vom alten Arbeiterviertel Trinquetaille geht es zur Arena, zu dem Haus, das Freunden gehörte, auf dessen Dach ich so oft gestanden habe. Jetzt wohnt hier ein docteur de coeur, ein Kardiologe, sagt Madame, die Nachbarin. Gezeltet habe ich hier auch einmal – nur wo? „Camping City“ neppt die Touristen, will schlappe 20 Euro pro Nacht. Drei Kilometer weiter kostet der Platz nur noch fünf. Wieder tun mir die Backpacker leid – sie können ihre schweren Rucksäcke kaum tragen, schaffen es nur bis zum ersten Platz.

Danach kommt das Unwetter: Blitz, Donner, das Zelt meines Nachbarn läuft voll. Regen auch am nächsten Tag – die letzten 80 Kilometer ans Meer schenke ich mir, dazu kenne ich die Strecke über Le Sambuc und Salin de Giraud zu gut. Und Jochen, der irgendwas von „toller Leistung, hätte ich nicht gedacht“ brummelt, hat wenigstens irgendwas zu meckern.

Am Mittelmeer, am Plage de Piémanson war ich ein Jahr später trotzdem, 2004 mit Nadia aus Bordeaux kommend. Und in diesem Sommer geht es von Essen an den Atlantik – dank Burkhard und Thorsten Reck.