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Archiv-Artikel

Chantal hatte kein eigenes Bett

AUFKLÄRUNG Leiterin des zuständigen Jugendamts im Bezirk Mitte suspendiert, Ermittlungen wegen des Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht

Von KAJ
„Wenn ich höre, es gibt für zwei Erwachsene und vier Kinder nur ein Sofa und zwei Betten, dann ist da nicht alles in Ordnung“

Bezirksamtsleiter Markus Schreiber

Die vor zwei Wochen an einer Methadonvergiftung gestorbene Chantal hatte in der Wohnung ihrer Pflegefamilie kein eigenes Bett. Das räumte die zuständige Jugendamts-Chefin Pia Wolters im Jugendhilfeausschuss Mitte ein, der seine Sitzung mit einer Schweigeminute für das tote Kind begann. Bezirks-Chef Markus Schreiber (SPD) ging auf Abstand zu seiner Jugendamts-Leiterin. „Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht behaupten, das Jugendamt trifft keine Schuld“, sagte er. Gestern suspendierte er Wolters vom Dienst.

Ein eigenes Bett steht auf Checklisten für Kinderschutz. Es sei für eine Elfjährige durchaus nötig, sagte der GAL-Abgeordnete Lothar Knode, der selber in einem Jugendamt tätig ist. Das Mädchen habe vielleicht Liebesbriefe oder ein Poesiealbum gehabt. „Wenn es keine Schränke und kein eigenes Bett gab, frage ich, wo verwahrt sie das?“

„Wenn ich höre, es gibt für zwei Erwachsene und vier Kinder nur ein Sofa und zwei Betten, dann ist da nicht alles in Ordnung“, sagte auch Bezirksamtsleiter Schreiber. Jugendamts-Chefin Wolters relativierte: „Es gab ein großes Hochbett für die beiden großen Kinder und ein breites Bett für die Kleinen.“ Die Eltern hätten wohl auf dem Sofa geschlafen.

Nach Aussage der Rettungskräfte, die Chantal fanden, war die Wohnung vermüllt. Dies sei eine Frage des persönlichen Empfindens, sagte Wolters. „Der eine hat es gern geleckt, der andere stapelt alles und lässt auch schmutzige Unterwäsche liegen.“ Deshalb seien verschiedene Mitarbeiter mit der Einschätzung betraut.

Ein Amtsvormund habe die Wohnung „nicht akzeptabel“ gefunden, sagte die Jugendamts-Chefin. Daraufhin habe man die Pflegemutter zum Aufräumen aufgefordert. Bei einem angemeldeten Kontrollbesuch „war es aufgeräumt“, so Wolters. Unangemeldete Besuche seien nicht üblich, „da kann eine Familie nein sagen“. Die Familie sei aber sehr kooperativ gewesen.

„Es gibt Menschen, die lernen, Behörden zu täuschen“, sagte daraufhin Schreiber. Er selber werde zurücktreten, wenn sich eine persönliche Schuld fände, er habe „keine Pattex-Mentalität“. Es sei aber für einen Bezirks-Chef nicht möglich, alle Vorgänge zu kontrollieren.

Die Staatsanwaltschaft durchsuchte gestern das Wilhelmsburger Jugendamt und die Räume des freien Trägers, der mit der Betreuung der Pflegefamilie beauftragt war. „Wir ermitteln gegen bislang unbekannte Mitarbeiter wegen des Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht“, sagte Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers.

Der Jugendhilfeausschuss Mitte will nun die Personalsituation verbessern. Es gebe in Wilhelmsburg zu viele Berufsanfänger, sagte GAL-Abgeordneter Knode. „Da fehlen erfahrene Kräfte.“  KAJ