KIRSTEN FUCHS über KLEIDER : Eine Hauptfigur ohne Hose
Für jede gute Geschichte gilt: Auch Papierkameraden müssen entsprechend ihrer Rolle gut angezogen sein
Wenn ich eine Geschichte schreibe und eine Hauptfigur einführe, muss ich nicht erwähnen, dass diese Person etwas anhat. Davon geht der Leser aus, denn die meisten Menschen haben etwas an. Aber wenn ich eine Hauptfigur habe, muss ich sie trotzdem als irgendetwas darstellen: das Arschloch von nebenan, die eitle Zicke, der nicht unsympathische Oberspinner. Um das zu vermitteln, kann ich schreiben: „Er war ein Arschloch, sie war eine Zicke, er war ein Spinner“, oder ich mache es indirekter, z. B. durch Handlungsweisen der fiktiven Wesen: „Er rotzte, ohne einen Blick zu werfen, ob jemand auf der Straße entlangging, einfach in hohem Bogen vom Balkon“ – ein Arschloch. „Sie gab der deutlich attraktiveren Kellnerin zwei Cent Trinkgeld“ – eine Zicke. „Er saß auf einem Baum und schrie immer wieder ‚Kuckuck!‘, so laut er konnte“ – ein Kuckuck? Nein, ein Spinner!
Des weiteren kann ich auch die Figuren reden lassen, und meistens verraten sie sich dabei selbst. Das Arschloch sitzt allein in einer Kneipe und kann gar nicht anders, er muss etwas Gemeines sagen: „Noch’n Stock in’n Arsch gesteckt und’n paar Federn obenruff und fertisch ist der Paradiesvogel!“ Er meint die Zicke. Die hat alles genau gehört und singt in ruhigem Tonfall: „Eine Kritik, schau an! Und das mir!“ Sie greift sich gespreizt an ihr Dekolletee und flötet weiter: „Na, mal schauen, welch stilsicherer Herr sich da an mich gewandt hat!“ Sie blitzt das Arschloch an und mustert ihn von oben bis unten, die Halbschuhe mit Fransen, die weißen Socken, die Jeansjacke mit einem Aufnäher eines ziemlich bekannten Motorradherstellers, die Ballonseidenhose. „Äh!“, gibt die Zicke ihr Urteil bekannt und verlässt kurzerhand die Lokalität.
An diesem kurzen Konstruktionsmoment wird deutlich, wie die Figuren sich im Sprechen zeigen, aber vor allem wird deutlich, dass nichts daran vorbeiführt, ein wichtiges Hilfsmittel zu verwenden, und zwar: Watt ham die Papierkameraden an? Es schleicht sich automatisch in die Handlung. Das Arschloch beschreibt die Zicke als aufgeputzten Paradiesvogel. Diese Frau scheint sich zu sehr in den Farben ausgetobt zu haben, glänzende Stoffe und Schminke bis zur Unkenntlichkeit. Sie ist auf Mannfang, damit irgendetwas ihr Selbstbewusstsein hochbumst. Das ist traurig. Das darf man so einer Person nicht unter die Nase reiben. Darum ist das Arschloch ja auch ein Arschloch, weil er es trotzdem tut. Aber die Zicke ist eine Zicke, weil sie darauf Antworten weiß, spitzer, bissiger, treffender. Dumm ist sie nicht. Und in ihrem abfälligen Abschätzblick aus halb geschlossenen Lidern finden alle Klischees Erwähnung, die der Campingplatz-Tarzan an sich hat. So eine Ballonseidenhose reicht und der Widerling entsteht von allein vor dem inneren Auge und vor der inneren Nase ist er fast zu riechen: Buletten!
Der Spinner, der den Dialog zwischen Arschloch und Zicke mitangehört hat, hält seinen Kopf schief und kichert in sich hinein. Endlich war er mal nicht der Mittelpunkt der Häme. Er schlenkert seine Damenhandtasche voller Zigaretten und schnaubt in den Ärmel seines Knight-Rider-Pullovers, eine echte Rarität. Dass Arschloch blubbert ihn an, ob das Sozialamt keine Taschentücher verteilt? Diesmal ist er sich sicher, dass er ein Beleidigungsopfer gefunden hat, dass sich nicht wie die Zicke zu wehren weiß. Schon allein, dass der Spinner eine Krawatte als Gürtel trägt! Das Arschloch lacht auf. Der Spinner hält einen langen Vortrag über Werte, die Gesellschaft, sein Leben, die Kapitalistenschweine. Er meint damit nur, dass Kleidung nicht so wichtig ist und er in sein spärliches Eigentum rotzen kann, wie es ihm gefällt. Und damit hat er ja Recht. Das Arschloch versteht ihn einfach nicht. Arschlöcher verstehen nie was. Weil es mir in den Kram passt, lasse ich seine Ballonseidenhose an einer Kerze Feuer fangen und innerhalb von Sekunden verschmoren – und wenn eine Hauptfigur plötzlich keine Hose anhat, dann muss ich das unbedingt erwähnen.
Ein Arschloch ohne Hose. Wenn das nicht fast eine Metapher ist!
Fragen zu Zicken? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander über SCHICKSAL