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Archiv-Artikel

Von Wald, Wahn und Wirklichkeit

ZAHLENZAHLENZAHLEN In „Die Summe meiner einzelnen Teile“ erzählt Hans Weingartner von einem psychotischen Mathematiker, der durch ein Kind und die Natur seinen Weg zur Heilung findet

VON WILFRIED HIPPEN

Alles kann in Zahlen ausgedrückt werden, aber was wird aus einem Menschen, für den die Welt in ein endloses Meer von Zahlen gerinnt? Solch ein psychotischer Schub hat Martin Blunt aus der Bahn geworfen. Doch am Anfang des Films hat er diese Krankheitsepisode bereits hinter sich. Er wird als „geheilt“ aus einer psychiatrischen Klinik entlassen, steht allerdings immer noch unter einer hohen Dosierung von Medikamenten. Hoffnungsfroh macht er dennoch sich auf den Weg zu seiner alten Arbeitsstelle, doch seinen Job als hochspezialisierter Mathematiker bekommt er, trotz vorheriger Zusage, nicht wieder. Schnell gerät die Welt für ihn wieder aus den Fugen, Geldsorgen und Isolation erhöhen den äußeren Druck, so dass er auch innerlich die Kontrolle über sich verliert und erneut anfängt, obsessiv zu zählen.

Diesen gesellschaftlichen und seelischen Zerfall eines Menschen inszeniert Hans Weingartner in den ersten zwanzig Minuten seines Films mit einer Intensität und Detailfülle, die offensichtlich genauen Recherchen geschuldet sind. Wie ein leitender Angestellter mit netten Worten eine Karriere terminiert, wie eine Gerichtsvollzieher sich Zugang zu einer Wohnung verschafft und den Bewohner buchstäblich aus dem Bett auf die Straße wirft, wie die Stadt für einen obdachlosen und mittellosen Menschen langsam zu einer feindlichen Zone wird – das ist selten so authentisch und niederschmetternd erzählt worden. Nur mit der Zahlenpsychose selber fängt Weingärtner dramaturgisch erstaunlich wenig an. Aber im Grunde hat er ja eine ganz ähnliche Krankheitsgeschichte schon in seinem Debüt „Das weiße Rauschen“ erzählt, in dem Daniel Brühl einen paranoid Schizophrenen spielte. Hier wird die Krankheit eher als eine Metapher für das moderne Großstadtleben gesehen: Martin sagt sogar sehr programmatisch „zu viele Zahlen“, bevor er sich auf dem Weg aus der Stadt in den Wald macht. Das Leben als Obdachloser in Berlin ist hart und gefährlich, doch nachdem Martin den 10-jährigen Victor aus der Ukraine trifft, gelingt es den beiden, die Stadt und das alte Leben hinter sich zu lassen. Im Wald bauen sie sich einen Unterschlupf und kehren nur in die Stadt zurück, um Pfandflaschen zu sammeln und sich von dem Geld Nahrungsmittel zu kaufen.

Da Weingartner fast ausschließlich aus der Perspektive des Protagonisten erzählt, kann auch der Zuschauer Realität und Trugbilder oft nicht voneinander unterscheiden. Das ist sowohl darstellerisch wie auch als Inszenierung faszinierend umgesetzt. Peter Schneider gelingt es, den psychisch Kranken, der versucht, sich selber zu heilen und der dabei immer mehr helle Momente erlebt, so zu spielen, dass der Zuschauer seiner inneren Logik immer folgen kann.

Diese Innenansicht der Krankheit macht den Film so interessant, Weingartner hat viel recherchiert, um zum einen das Krankheitsbild, zum anderen aber auch die Reaktionen der Außenwelt auf diesen „Verrückten“ so komplex und detailliert darstellen zu können. Nur dramaturgisch holpert der ansonsten so stilsicher inszenierte Film leider etwas. Weingartner kann besser Situationen ausmalen als einen großen epischen Bogen spannen, und so behilft er sich zum Teil mit konventionellen erzählerischen Tricks.

So ist der Schluss die Variation einer längst zum Klischee gewordenen Konvention des Spannungskinos und zudem gibt es hier plötzlich zum ersten Mal eine Reihe von Perspektivwechseln, mit denen dann doch eine schön ordentliche Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit gezogen wird.