: Sein Himmel unter der Erde
HANDWERK Sein Beruf wurde „aufgehoben“, Frank Zahor übt ihn trotzdem aus: Er ist Handschuhmacher. Ein Porträt
VON JOHAN KORNDER
Die Erzgebirgsbahn rattert behäbig gen Osten, schlängelt sich den Flusslauf des Schwarzwassers entlang, vorbei an grünen Bergwiesen, durch Fichtenwälder. Der Zug fährt nach Johanngeorgenstadt, einem Erholungsort, der vom Tourismus lebt. Früher gab es hier Handwerk, Handschuhmacher vor allem. Heute gibt es noch einen.
Frank Zahor ist glücklich. Er bekommt Besuch. Das ist selten und „will gefeiert werden“. Eine Flasche Wismut-Schnaps hat er gekauft und vier Flaschen Radeberger. Der alte Herr, der seine Glatze unter einem Tiroler Hut versteckt, sitzt am Tisch und lächelt mit vergoldeten Schneidezähnen. Hinter ihm, auf einer Kommode, zwischen Kakteen und Nussknackern: ein gigantischer ausgestopfter Lederhandschuh, der einem Riesen die Finger wärmen könnte. Das größte von über siebenhundert Modellen. Die verschiedenen Muster haben sich im Laufe der Zeit angesammelt. Im Jahre 1866 war Zahors Großvater der erste Handschuhmacher in Johanngeorgenstadt. „Und ich bin der letzte“, sagt Enkel Frank. Er schenkt sich ein Glas Schnaps ein.
Frank Zahor ist traurig. Mit glasigen Augen starrt er durch seine Werkstatt. Er sieht die unzähligen Handschuhe, die wie Eiszapfen von der Decke des Kellerraums hängen. Er sieht die silbernen Hände, die von der Werkbank zu grüßen scheinen, die Brenneisen zum Bügeln der fertigen Handschuhe. Er sieht die Autogrammkarte seines berühmtesten Kunden an der Wand: Florian Silbereisen, Schlagersänger und Moderator der „Feste der Volksmusik“. Er sieht seine Werkstatt, sein Museum. Und wenn er in diesem Moment sein Spiegelbild in den Scheiben der Türe sieht, dann sieht er sein wichtigstes Ausstellungsstück: einen der letzten Handschuhmacher Deutschlands.
Frank Zahor ist glücklich. Die Kellerwerkstatt ist sein Himmel unter der Erde. Mit seinen kräftigen Händen zerrt er am Leder, dass es knarrt, presst es zwischen die Kante der Arbeitsfläche und seinen dicken Bauch, zieht daran und streichelt es dann, liebevoll fast, glatt. Nur für zwei Schritte müssen die künstlichen Hüften seinen massigen Körper stützen, vom Schrank, wo die Kaliber in allen Größen lagern, zur Presse, wo er das duftende Leder in Handform stanzt. Er legt das Stück Ziegenhaut feinsäuberlich auf das Kaliber und drückt den Hebel herunter, das Eisen ächzt. Das Leder hat jetzt vier Finger, es fehlt nur der Daumen. Der Handschuhmacher schnauft. Er braucht eine Pause. Und noch einen Schnaps.
Frank Zahor ist traurig. Auch nach Russland hat er früher Handschuhe geliefert. Das ist vorbei. „Alles kaputt seit der Wende“, seufzt er, leert sein Glas und schenkt nach. Damals haben westdeutsche Unternehmer seine Handschuhe „für zehn Mark gekauft und drüben für 99 Mark verkauft“. Bis zur Wiedervereinigung hat „in Johannstadt“, wie Zahor seinen Heimatort nennt, „jeder am Handschuh mitgearbeitet“. Ob als Gerber, Näherin oder, wie er selbst, als Handschuhmachermeister. „Die Stasi war schon schlimm und es hat manches gefehlt“, sagt Zahor. „Aber alles Gute hat der Westen uns nicht gebracht.“
Frank Zahor ist glücklich. Der 72-Jährige will hundert Jahre alt werden. Er trinkt sein Glas Wismut in einem Zug, spült mit einem Schluck Bier nach. „Drei können wir schon vertragen“, sagt er. Trotz der schweren Hirnblutung, die er vor 25 Jahren überlebte, trotz der künstlichen Hüften, die ihn seit 14 Jahren beim Gehen wie einen Pinguin wackeln lassen, und trotz des Schrittmachers, der seinem Herz seit vier Jahren den Takt vorgibt, geht es ihm gut. Dank seiner Leidenschaft. „Mein Arzt sagt: Dein Rezept ist deine Werkstatt.“ Arbeiten will er „bis neunzig, ab dann nur noch halbtags“.
Er hat das Radio eingeschaltet. „Que será, será“, leiert es im Hintergrund. „Whatever will be, will be.“
Frank Zahor ist traurig. Was wird sein? „Wenn ich einmal zusperre, dann traurig mit Tränen“, sagt er über die Zukunft. Wie wäre es geworden? „Wenn ich den Auftrag vor zehn Jahren bekommen hätte, dann?“, sagt er über die Vergangenheit. Welcher Auftrag? Der, zehntausend Paar lederne Damenhandschuhe anzufertigen, den er ablehnen musste. Etwa tausend Paar Handschuhe haben sie zu elft in seinem Keller produziert, damals, als Zahor noch seine Mitarbeiter hatte. Aber jetzt, wo er längst allein, seit elf Jahren offiziell Rentner ist, jetzt war der Auftrag zu groß. Offiziell Rentner, das heißt: Vor elf Jahren wurde der Ausbildungsberuf Handschuhmacher von der Bundesagentur für Arbeit im Internet als „in der Industrie aufgehoben“ erklärt. „Ausgestorben!“, das sagt er dazu, Zahor, einer der letzten aktiven Handschuhmacher. Mit Hilfe seiner Frau stellt er noch zehn Paar Handschuhe in der Woche her. Das hält ihn am Leben. Ihn und seinen Beruf.
Das Radio ist verstummt. Frank Zahor hat es ausgeschaltet.
Die Erzgebirgsbahn rattert zügig gen Westen. Im diesigen Morgennebel rumpelt sie auf rostigen Schienen, vorbei an verlassenen Wohnhäusern, die zum Verkauf angeboten werden, mitten durch graues Industriegebiet. Der Wagen ist fast leer, die Reisenden, überwiegend Jugendliche, fahren in die Schule. Der Zug kommt aus Johanngeorgenstadt. Einer einst berühmten Handschuhmacherstadt, der das Handwerk stirbt.