: Zurück zum Wort
Hier Dilek Güngör, die perfekt auf den Ort Abgestimmtes liest, dort die Unsicherheiten schaffende Martina Hefter und mittendrin viele fröstelnde Bücherfans: Die 7. Buchnacht in der Oranienstraße
VON ANNE KRAUME
Am östlichen Ende der Oranienstraße stellen die Kellner des indischen Restaurants gerade über endlosen Reihen von Holztischen die Gasheizungen an. Ein paar Schritte weiter wartet die Betreiberin der Eisdiele Leckmich auf Kundschaft. Jetzt, am frühen Abend, fällt das Sonnenlicht von Westen schräg in die Straße, überstrahlt noch einmal die Häuserwände und lässt am Heinrichplatz das Pflaster glänzen. Der vorbeirauschende Bus streift mit seinem oberen Stockwerk die im Gegenlicht leuchtenden Blätter der Bäume, und ganz in der Ferne blitzt die Kugel des Fernsehturms.
Eine Stunde zwischen Tag und Nacht in der Oranienstraße. Zeitung lesende Menschen beim Feierabendbier vor den Cafés; an den Ampeln stehen Autos, aus denen laut türkische Musik dröhnt. Beim Gemüseladen Aksünger Gida Pazari liegen in der Auslage noch die Nüsse, Johannisbrotschoten und Süßkartoffeln, während man gegenüber beim Blumenladen Dilek schon beginnt, die Blumentöpfe von der Straße zu räumen. In dieser Stunde mit der schräg einfallenden Sonne und dem Feierabendbier rüstet sich die Oranienstraße nach einem Jahr Zwangspause zur siebenten Auflage der langen Buchnacht. Aus der hektischen Straße wird allmählich eine betriebsame nächtliche Flaniermeile für fröstelnde Bücherfans.
In der Stadtbibliothek am Kottbusser Tor muss man heute ausnahmsweise seine Taschen nicht einschließen, ehe man ins obere Stockwerk steigt. In den Regalen an der Treppe warten abgegriffene, zwei Jahre alte Exemplare von Psychologie heute auf Leser, und bei den neueren Ausgaben steht vermerkt, dass man sie noch nicht ausleihen könne. Die Tür wird pünktlich geschlossen, drin beginnt die Lesung von Dilek Güngör, die Kolumnistin bei der Berliner Zeitung ist und aus ihren Familiengeschichten „Unter uns“ Episoden vorliest, die in der Oranienstraße ihren perfekten Ort gefunden zu haben scheinen. Während aus dem Hof das Geschrei spielender Kinder emporschallt, berichtet sie von den jedes Jahr gleichen Ramadangrußkarten und Bittbriefen ihrer Tanten aus der Türkei, von der Leidenschaft ihrer Mutter für tragische türkische Liebesfilme und vom Gemüsegarten ihres Vaters, der sich allmählich in ein südostanatolisches Anbaugebiet für Minze, Paprika und dergleichen Exotik mehr verwandelt.
Auf der Oranienstraße hat inzwischen in der Galerie mit den bunten Bildern von Funny van Dannen ein Konzert mit seltsamen Pfeifen begonnen, die man irgendwohin zwischen Mund und Nase klemmt, um dann einen schrillen melodischen Lärm zu produzieren, der den ganzen Abend über nicht abreißen wird. In der Buchhandlung Kisch & Co schieben sich die Menschen zwischen die Büchertische, um Ulrich Peltzers Geschichte aus einer Überwachungszentrale am Potsdamer Platz zu lauschen. Nach wenigen Augenblicken geht aber eine Bewegung durch die Menge: Die Zuhörer sind kaum fasziniert von den Überwachungsszenarien und wenden sich stattdessen lieber der Auslage auf den Tischen zu. Ein paar Schritte zurück wartet man im brechend vollen Bateau Ivre darauf, dass der Schauspieler Birol Ünel seine Rimbaud-Lesung beginnt, aber zuerst müssen noch viele Kabel eingestöpselt werden. Birol Ünel trinkt unterdessen Bier und Rotwein, trägt einen knittrigen Anzug aus Flanell und eine Art Fremdenlegionärsmütze, die aussieht, als wäre sie aus Pappe. Er sitzt auf zwei zusammengeschobenen Tischen, baumelt mit den Beinen und scheint sich vor allem über das Gedränge zu amüsieren. Als er nach dem ersten Gedicht gleich eine Pause vorschlägt, damit man „eins oder zwei“ bestellen könne, ruft von draußen einer, der von dem Gedicht eigentlich sowieso nichts mitbekommen haben kann: „War das alles, Birol?!“, und drin beginnt eine ältere Dame, ihrer Freundin wenigstens das Gedicht vom trunkenen Schiff vorzulesen, das auf großen Bögen Packpapier geschrieben an die lindgrüne Wand der Kneipe gepinnt ist.
In der Oranienstraße bricht allmählich die Nacht herein, der Himmel wird dunkler und bleibt klar dabei, am Oranienplatz schimmert er beinahe so grün wie die Ampel neben dem Supermarkt, und genau in der Mitte zwischen den Häusern hängt inzwischen der Vollmond. Auf den Gehwegen stehen Menschen, die anscheinend ihren Weg durch die Lesungen minutiös planen, und die Buchhandlung Dante Connection wird gerade von einer größeren Gruppe solcher Menschen mit Outdoorjacken und Rucksäcken gestürmt.
Hier liest jetzt Martina Hefter aus ihrem Roman „Zurück auf Los“ von den Nachtgedanken einer jungen Frau an der Rezeption eines Hotels. Es geht um die junge Frau, die von ihrem Freund verlassen wird und der von einem Bekannten gesagt wird, man müsse heute kein Geld mehr verdienen wegen der Sicherheit, sondern um, im Gegenteil, Unsicherheit zu schaffen: „Das Risiko so weit zu bringen, dass es nur so tut als ob, das ist teuer!“ Es geht um ihren Bruder, der „vom Aufenthalt in Wüstengegenden ausgebleichte Augenbrauen“ hat, und es geht ganz am Rande auch um einen Mann in Toronto, der mir nichts dir nichts seine Frau verlassen hat und vielleicht auf ewig in der Vergangenheit lebt, „uns immer sechs Stunden hinterher“.
Beim Hinausgehen aus dem Laden weist ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz und Jeans auf ein Buch von J. M. Coetzee und fragt seine Mutter, ob sie das nicht auch zu Hause besäßen. Als die Mutter antwortet, sie habe es verschenkt, stampft die Tochter mit ihrem gelben Turnschuh auf und sagt: „Na toll! Immer verschenkst du alle Bücher, dabei sind Bücher was Heiliges! Man muss sie besitzen, damit man sich später immer an den Augenblick erinnert, in dem man sie gelesen hat!“ Draußen ist jetzt Nacht, und in der Oranienstraße glänzen die Lichter.