Drei Fraktionen auf der Suche nach sich selbst

INNENANSICHTEN Piraten, Grüne und Linke hatten Zeit, sich zu sortieren. Nun jedoch sollte klar sein: Wie stellen sie sich auf im Parlament? Welche Themen bringen sie ein? Wer wird Meinungsführer innerhalb der Fraktionen? Und: Wird es überhaupt jemand?

In der ersten Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses nach der Wahl war die Überraschung bei vielen Parteien groß: Da waren diese Neuen, die Piraten. Man hatte ja schon allerhand Kurioses über sie gehört. Und jetzt auch noch das: Bei einer Abstimmung wagten es die Mitglieder der Fraktion tatsächlich, uneinheitlich abzustimmen. Einige für die neue Geschäftsordnung, andere dagegen. Hat man so etwas schon gesehen?

Die Episode zeigt: Die Piraten funktionieren nicht nur, was Kopfbedeckungen und Netzkompetenz angeht, anders als andere Parteien und sorgen für Irritationen bei den Parlamentskollegen. Hierarchie? Kennen sie nicht. Ebenso wenig wie Fraktionszwang oder Entscheidungen, die von der Fraktionsspitze vorgegeben werden.

Viel wichtiger sei der Kontakt zur Basis, sagt Martin Delius, Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion. Die Basis soll thematische Linien festlegen, bei Entscheidungen die Richtung vorgeben. Soll es ein Rhetorik-Coaching geben? Soll die geplante Diätenerhöhung abgelehnt, das Wahlalter gesenkt werden?

Die Piraten haben sich seit ihrem Einzug ins Abgeordnetenhaus schwergetan mit dem festgelegten System eines Parlaments. Mit seinen Posten und Ämtern, den Geschäftsführern und Vorsitzenden, den Vizes und Sprechern, die manchmal so zahlreich scheinen, als ob sie nur erfunden wurden, um keinen Abgeordneten einfach nur Abgeordneten sein zu lassen. Die erste Debatte der frisch gebackenen Fraktion war daher: Brauchen wir einen Vorsitzenden? Geht es nicht auch ohne? Um dann den vorigen Spitzenkandidaten Andreas Baum zu wählen, einen ruhigen Menschen, keinen, der nach vorne drängt, im Gegenteil. Den lauten, Christopher Lauer, ließen sie abblitzen.

Davon abgesehen: Natürlich suchen einige Abgeordnete stärker die Öffentlichkeit, sind lauter als andere. Natürlich sprechen einige öfter im Plenum, verschicken häufiger Pressemitteilungen, sind regelmäßig Protagonisten von Reportagen. Doch die Fraktion gibt sich Mühe: Lieber splitten die Abgeordneten ihre Redezeit im Plenum, um mehrere zu Wort kommen zu lassen, als auf einen einzigen zu setzen.

Dass nicht mal einer auf den Tisch haut, hat auch Nachteile. Entscheidungen können sich ewig ziehen. Über vier Monate nach der Wahl hat sich die Fraktion geeinigt, wer mit wem in welchem Raum arbeitet. Fraktionssitzungen gingen gerade am Anfang über Stunden, kreisten immer weiter um dasselbe Thema – und irgendwann darum, warum man denn jetzt schon so lange über dasselbe Thema diskutiert.

Doch trotz oder wegen des fehlenden Zwangs zur Einigkeit: In den vergangenen Debatten haben die Piraten es geschafft, die anderen Fraktionen alt aussehen zu lassen. Kein Wunder, dass das gerade bei den originären Piraten-Themen der Fall war: Bürgerrechte und Überwachung, hier in Gestalt von Funkzellenabfrage und Schultrojaner.

„Die Frage der Oppositionsführerschaft ist noch nicht entschieden“, sagt Baum. „Ich denke aber, wir schlagen uns da ganz gut.“ Und mit einem Seitenhieb auf die Grünen: Nur weil mal jemand beschließe, Oppositionsführer zu sein, sei das noch längst nicht Realität. SVENJA BERGT

Da war es dann wieder: Wenn sich die Grünen da uneins seien, spottete einer aus der rot-schwarzen Koalition, dann sollten sie sich doch wieder einen Mediator holen, wie im Oktober. Noch heute, mit drei, vier Monaten Abstand, muss die Grünen-Fraktion in Parlamentsausschüssen oder in Plenarsitzungen Häme über sich ergehen lassen wegen ihrer zeitweisen Selbstzerfleischung. Regierungsfähig würden die Grünen sein wollen?, spottete etwa CDU-Generalsekretär Kai Wegner bei einem Parteitag im Januar – „die sollen doch erst mal oppositionsfähig werden“.

Das Dumme für die Grünen: Der Eindruck jener Wochen im Oktober, als schier die Spaltung der Fraktion drohte, als ihr linker Flügel das Wahlergebnis zur Fraktionsspitze nicht akzeptierte und mit eigenem Auftreten drohte, als der langjährige Fraktionschef Volker Ratzmann schließlich entnervt zurücktrat, als es nur noch mit zwei Schlichtern weiterging – dieser Eindruck sitzt einfach zu tief. Sogar von einem „Vernichtungsfeldzug“ war bei einem Parteitag im November die Rede.

Derzeit herrscht zumindest nach außen Ruhe. Auch bei einem erneuten Parteitag vor knapp drei Wochen gaben sich alle nett zueinander. Der führende Kopf der Parteilinken, Dirk Behrendt, entschuldigte sich bei dieser Gelegenheit sogar öffentlich bei allen, „denen ich Wunden geschlagen habe“. Fraglich ist, wie lange dieser Zustand anhält. Denn die derzeit als alleinige Fraktionschefin amtierende Ramona Pop ist nur auf ein Jahr gewählt. Und bei der Neuwahl wird die Frage zu klären sein, ob es wie bis Oktober wieder eine Doppelspitze geben soll. Neue Flügel- und Führungskämpfe sind dabei alles andere als ausgeschlossen.

Denn Pop und Behrendt werden zwangsläufig weiterhin für die unterschiedlichen Pole der Fraktion stehen. Nicht unproblematisch ist die neue Rolle Ratzmanns. Einer, der acht Jahre Fraktionschef und Gesicht der Grünen war, nun als Hinterbänkler – das passt nicht wirklich ins Gefüge. Das Problem könnten die Grünen selbst erledigen, wenn sie Ratzmann 2013 in den Bundestag schicken.

Beim jüngsten Parteitag haben die Grünen ihren zentralen Antrag überschrieben mit „Grüne Oppositionsführerschaft. Bessere Konzepte für Berlin“. Rein zahlenmäßig müsste den Grünen tatsächlich die Chefrolle zufallen. Dass die Zahl der Abgeordneten allein aber nicht Meinungsführerschaft garantiert, ließ sich bis zur Mitte der vergangenen Wahlperiode gut sehen: Da war der eigentliche Oppositionsführer zeitweise nicht CDU-Fraktionschef Frank Henkel, sondern sein Kollege Martin Lindner von der nicht mal halb so großen und inzwischen untergegangenen FDP-Fraktion. Der schaffte es – rhetorisch gut und auf Krawall gebürstet – am besten, gegen die rot-rote Koalition zu punkten.

Und so waren auch die Verfasser des Grünen-Leitantrags vorsichtig genug, die Führungsrolle nicht qua Größe einzufordern. „Nicht allein die Anzahl der WählerInnenstimmen macht uns Grüne zur Oppositionsführerin“, heißt es in dem Papier, das die Grünen-Politik kommender Jahre prägen soll, „sondern unsere politische Arbeit innerhalb und außerhalb des Parlaments.“

STEFAN ALBERTI

Das war so ein Moment, den sich Klaus Lederer öfter wünscht: Der Landeschef der Linken forderte als einer der Ersten den Rücktritt von Michael Braun als CDU-Justizsenator. Dann stellte er für die Opposition den Antrag, dem 12-Tage-Senator kein Übergangsgeld zu gewähren. Nur zähneknirschend lehnte die SPD ab – aus Koalitionstreue mit der CDU. So stellt sich Lederer die Arbeit der Linken als Oppositionspartei vor: den Senat immer wieder vor sich her treiben.

Lederer sitzt im ersten Stock des Karl-Liebknecht-Hauses und lüftet. Trotzdem hängt Zigarettenrauch im leicht provisorischen Arbeitszimmer des Linkenchefs. Den 37-Jährigen stört es nicht. Für die Abteilung Attacke braucht es kein Designerbüro, sondern Ideen. Die Initiative Sexuelle Vielfalt ist so eine Idee. „Jahrelang habe ich mit Initiativen gesprochen, wir haben uns vernetzt, und nun steht im Koalitionsvertrag: Berlin ist eine Stadt der sexuellen Vielfalt.“ Für Lederer ein Erfolg. Sein Anspruch: die Meinungsführerschaft in der Opposition.

Mit 11,7 Prozent blieb die Linke weit hinter ihren Erwartungen zurück, nun liegt sie in Umfragen sogar hinter den Piraten. Lederer weiß, dass die Linke ein Problem hat: „Wir sind noch immer die ehemalige Regierungspartei.“ Grüne und Piraten hätten es da leichter. „Die werden nicht sofort gefragt: Und was habt ihr in der Regierung dazu gesagt?“

Mit Piratenthemen will die Linke ihr Image aber nicht aufpeppen. „Das nimmt uns sowieso keiner ab.“ Allein auf soziale Gerechtigkeit will der Reformer Lederer aber auch nicht setzen. „Unser Markenkern ist der soziale Zusammenhalt, aber modern verstanden.“

Schall schluckender Teppichboden, großer Flachbildfernseher, schicke Sessel. Das Büro von Kathi Seefeld ist der Gegenentwurf zum Arbeitszimmer von Klaus Lederer. Auch politisch soll es künftig eine Arbeitsteilung geben. „Die Fraktion hält den Kontakt zu den anderen Parteien im Abgeordnetenhaus, der Landesverband organisiert die Debatte über eine neue linke Politik“, sagt Seefeld, die Fraktions-Pressesprecherin. Man kann auch sagen: Fraktionschef Udo Wolf steht für Kontinuität, Lederer für Angriff. Die Exsenatoren hat die Partei vorsichtshalber gleich in die zweite Reihe gestellt.

Eine schöne Strategie, gäbe es nicht den linken Parteiflügel. Für die Fundis steht Landeschef Lederer ebenso für den Schmusekurs gegenüber der SPD wie die Senatoren oder der Fraktionschef. Auch deshalb gibt es in einigen Kreisverbänden die Forderung nach einer Doppelspitze.

Die aber lehnt Lederer kategorisch ab. Der Ehrgeiz, die Linke aus dem derzeitigen Umfragetief zu holen, ist ihm anzumerken. Leicht wird der Spagat aber nicht. Und nicht immer wird ihm die CDU wie mit der Schrottimmobilienaffäre eine Steilvorlage geben. UWE RADA