: berliner szenen Trinken und Sinken (5)
Im Sinn der Räusche
Vom Feierabendlokal Turandot führt mein Heimweg vor allem über den in dieser meist dezent fragwürdigen Verfassung schier endlos wirkenden Columbiadamm.
Aber die Route hat auch ihre Vorteile: Oben am Flughafen Tempelhof angekommen, mache ich erst mal mein Bächlein, und zwar stets an derselben Stelle: Mit Blick auf den dort ausgestellten „Rosinenbomber“ trommelt der Strahl gegen eine dünne Wellblechwand. Oft ist es schon hell, aber dennoch fast immer menschenleer – sonst würde ich natürlich im Sitzen pinkeln. Was für ein Ort aber auch: welch Privileg für einen einfachen Menschen, auf einem banalen Kneipenheimweg an solch historischem Punkt sein simples Geschäft verrichten zu dürfen! Viele Menschen auf der ganzen Welt würden alles dafür geben, um einmal einen solchen Moment zu erleben, in einer solchen Stadt!
Und neulich früh gab es sogar noch eine Steigerung: Es war fünf oder sechs. Ein schlichter Bauzahn aus Draht legte den Blick auf den Innenhof der Moschee am Columbiadamm frei. Der satte weiße Vollmond schuf eine kitschige Szenerie aus Tausendundeiner Nacht. Und plötzlich ertönte wunderschöner Gesang: bestimmt irgendwelche Suren aus irgendeinem Koran. Ich war wie berauscht vor Glück, gefangen von der atemberaubenden Wucht einer Art psychedelischer Islam-Erfahrung, sicher nicht unwesentlich befeuert von tausendundeinem Promille – da sage noch einer, Islam und Alkohol passten nicht zusammen. Der Gesang verebbte, und aus der Moschee schlüpfte ein grauhaariges Männlein, ging quer über den Hof und verschwand in einem Nebengebäude. Ich blieb allein zurück mit dem Mond, meinen Gedanken und dem restlichen Heimweg. ULI HANNEMANN