WAS BISHER GESCHAH (4) : Das Kino und das Gefängnis
Filmkritiker kennen das Gefühl des Eingesperrtseins nur zu gut; während der Berlinale ist es gewissermaßen ein Dauerzustand. Seine Tage verbringt man größtenteils eingepfercht in dunklen Räumen. Spätestens nach dem dritten Film wird der Weg zwischen den Kinos zu einem Akt der Befreiung.
Umso befremdlicher mutet die Idee an, ins Kino zu gehen, um Menschen beim Eingesperrtsein zuzusehen. Dieter Kosslick hatte als Leitmotiv der diesjährigen Berlinale „Gesellschaften im Umbruch“ ausgegeben, doch in den Wettbewerbsfilmen der ersten Tage geht es auffallend oft um das Gefangensein: das Leben im Überwachungsstaat in „Barbara“, die Arbeit eines Gefängnistheater-Ensembles in der Dokumentation „Caesar must Die“, die Geiselnahme durch eine Gruppe philippinischer Terroristen in „Captive“ – oder als Gewaltverbrechen „Coming Home“, Eskapismus am Königshof in „Les adieux à la reine“.
So tut sich schon nach wenigen Tagen ein interessanter Widerspruch zwischen Festivalrealtität und Realpolitik, die abzubilden die Berlinale sich ja auf die Fahnen geschrieben hat, auf. Während die unterdrückten Gesellschaften in der arabischen Region sich – unter unermesslichen Opfern – gerade ihre persönliche Freiheit erkämpfen, scheint sich das europäische Autorenkino verstärkt mit dem Wegsperren zu beschäftigen. Auffällig ist dabei, wie viele weibliche Figuren im Zentrum dieser Leidensszenarien stehen. Nur wenige von ihnen legen eine solche Souveränität wie Agathe Bonitzer im französischen Beitrag „Coming Home“ an den Tag. Der Film schildert die Beziehung eines jungen Mädchens zu ihrem Entführer über einen Zeitraum von zehn Jahren und registriert dabei in Bonitzers aufmüpfigem Blick auch eine schleichende Veränderung der Machtpositionen.
Dass das Gefängnis aber auch ein dankbares kinematografisches Sujet sein kann, zeigt der griechische Wettbewerbsfilm „Metéora“. Hier steht ein schier unüberwindliches Hindernis der Liebe zwischen einem Mönch und einer Nonne im Weg: Ihre Kloster thronen auf zwei gegenüberliegenden Felsen. Im negativen, gewissermaßen nicht erzählbaren Raum zwischen den Klöstern manifestiert sich ihre Sehnsucht.
Werner Herzogs Interviewfilm „Death Row“ hat einen sehr schönen Begriff für diesen ins Positive gewandten Sehnsuchtsraum zwischen zwei Gefängnissen gefunden. Einer der Todeskandidaten beschreibt den Transport vom Gefängnis an den Ort seiner Exekution als Fahrt durch das Heilige Land. Auf dem Weg zwischen zwei Kinosälen gehen einem eher die Worte eines Schauspielers aus „Caesar must Die“ nicht aus dem Kopf: „Seit ich die Kunst verstehen gelernt habe, hat sich meine Zelle in ein Gefängnis verwandelt.“
ANDREAS BUSCHE