: Schatten seiner selbst
Auch in München scheitert Rainer Schüttler bereits in der ersten Runde. Nicht nur die ehemalige Nummer fünf der Tenniswelt macht das ratlos. Ein Trainerwechsel kommt dennoch nicht in Frage
AUS MÜNCHEN DORIS HENKEL
Er ist immer noch der Prototyp eines austrainierten Sportlers. 70 Kilo Gewicht auf einsachtzig Größe verteilt, Muskeln deutlich definiert, kein Gramm Fett auf den Rippen und in der Lunge genug Luft, um zu rennen, zu rennen, zu rennen. Rein äußerlich hält Rainer Schüttler jeden Vergleich mit dem Mann aus, der 2003 so viel gewann wie nie zuvor in seinem Leben, der das Finale der Australian Open und Ende des Jahres fast auch das Finale beim Masters Cup erreichte. Jenem Mann, der sogar Ende April 2004 noch die Nummer fünf der Welt war. Doch nach der Niederlage in München gegen den Brasilianer Ricardo Mello, der sechsten Erstrunden-Niederlage in diesem Jahr, gab Schüttler zu, dass er sich bisweilen selbst nicht mehr erkennt. „So, wie ich gespielt habe“, sagte er, „war ich nur ein Schatten meiner selbst.“
Ein Schatten, der immer länger wird; schwer zu sagen, wann er zum ersten Mal aufgetaucht ist. Im vergangenen Jahr, als Schüttler zwar einerseits ein paar schöne Erfolge hatte als Finalist beim Mastersturnier in Monte Carlo, als Halbfinalist in Halle, Gstaad und Kitzbühel und beim Gewinn der Silbermedaille im Doppel mit Nicolas Kiefer bei den Olympischen Spielen. Aber andererseits verlor er viel zu oft viel zu früh – insgesamt 19 Mal in der Auftaktrunde eines Turniers –, und so wusste er am Ende selbst nicht so recht, wie er das Jahr einordnen sollte. Nach einer Knieoperation im Dezember nahm er sich vor, 2005 mit Geduld anzugehen, nicht zu viel von sich zu verlangen. „Dass die ersten zwei Monate verkorkst waren, ist normal“, sagt er. Beim Davis Cup in Südafrika Anfang März sei es dann ein wenig besser gegangen, und deshalb habe er sich Hoffnungen auf die folgenden Turniere in den USA gemacht. Doch in Indian Wells und Miami verlor er auch schon in Runde zwei, und seit Beginn der Sandplatz-Saison ist es eher noch schlimmer geworden. In der nächsten Weltrangliste wird er wohl gerade noch zu den besten 70 gehören.
Schüttler sagt, im Training fühle er sich bestens, und da habe er inzwischen alles probiert, was er probieren konnte. Kleineres Konditionsprogramm, mehr Spiel oder weniger Spiel, mehr Kondition. Seit Monaten landet er nun immer wieder beim gleichen Problem: Früher, so sagt er, habe er in engen Phasen des Spiels versucht, mit erhöhter Aggressivität eine Entscheidung zu erzwingen, aber dazu fehle ihm nun das Selbstvertrauen. Anstatt einen Schritt nach vorn zu gehen, verharrt er nun in ängstlicher Erwartung.
In der Theorie ist die Sache ganz klar: „Ich muss mehr riskieren – mehr als verlieren kann ich ja nicht.“ Aber er tut es dennoch nicht, und im Moment fällt ihm nicht mehr viel ein; der Schatten folgt ihm bei jedem Schritt.
Obwohl er sich bisweilen unverhältnismäßig hart kritisiert fühlt („Man wird dargestellt, als hätte man keinen Bock, würde nicht trainieren oder sei der größte Depp“, klagte er zu Beginn dieser Woche in einem Interview mit der Münchner tz) ist er, der Leistungsmensch, natürlich der Letzte, der sich mit einer Serie von Niederlagen abfinden mag. Doch es ist nicht leicht, ihm zu helfen. „Ich kenne keinen, der sich selbst auf dem Platz so negativ sieht wie Rainer“, sagt Kollege Alexander Waske. Viele haben versucht, ihn vom unbezahlbaren Wert des positiven Denkens zu überzeugen, aber die Aufgabe wird immer schwerer.
Ob es in dieser Situation hilfreich sein könnte, es mit anderen Leuten an seiner Seite zu versuchen? Davon will Schüttler nichts wissen. „An meinem Umfeld muss ich nichts ändern“, antwortet er. „Ich bin zu lange mit ihnen zusammen und weiß, was ich an ihnen habe.“ Das gilt vor allem für Coach Dirk Hordorff, der nach 13 gemeinsamen Jahren längst mehr als ein Trainer ist. Wer mag schon einen Freund entlassen, solange er noch glauben kann, das Schattenspiel aus eigener Kraft zu beenden?