Stettin als Chance

Wieso ist Stettin für Berlin so wichtig? Die polnische Großstadt ist ein kultureller und wirtschaftlicher Magnet. Bericht eines Berliners

VON UWE RADA

Manchmal kann Nähe auch hinderlich sein. Wenn in Deutschland von Stettin als „Hafen von Berlin“ die Rede ist, schalten die Stettiner Verantwortlichen auf stur. Das hatte, gleich zu Beginn seiner Amtszeit, Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck erfahren müssen. Während einer fünftägigen Polenreise im Frühjahr 2003 rannte Platzeck in Breslau und Posen offene Türen ein. In Stettin knallte er dagegen. Hafen von Berlin? Nicht mit uns.

Hinter der Stettiner Abwehr steckt mehr als nur die Furcht, wirtschaftlich den Kürzeren zu ziehen und wieder, wie vor 1945, zum „Hinterland“ der deutschen Hauptstadt degradiert zu werden. Die Abwehr ist deswegen so heftig, weil Stettin selbst nicht weiß, was es sein soll: Polnischer Ostseehafen? Da heißt die Konkurrenz Gdingen. Werftenstandort? Nach dem Konkurs wurde die Danziger Werft wieder verstaatlicht. Touristenzentrum? Da haben Krakau und Breslau Stettin längst den Rang abgelaufen. Also doch Berlins Hafen und Tor zur Ostsee?

Die Deutschen sind da pragmatischer, zumindest die im Umland von Stettin. In Pasewalk, Löcknitz oder Schwedt weiß man, dass die Zukunftsmusik nicht nur in Berlin spielen wird, sondern auch der 420.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der Woiwodschaft Westpommern. Nicht nur Schüler, auch Azubis, Selbstständige und Verwaltungsmitarbeiter haben angefangen, Polnisch zu lernen. Warum nicht einmal in Stettin arbeiten, wenn sich die Löhne ohnehin angleichen? Warum nicht dort ein Geschäft eröffnen?

Antworten auf Fragen wie diese fallen leichter, wer die Rolle Stettins in der EU erkennt: ein wirtschaftliches und kulturelles Oberzentrum einer Grenzregion, in der Berlin nicht Hauptstadt ist, sondern nur die größte Stadt einer Region, in der es auch Posen gibt, Breslau, Frankfurt (Oder) und Zielona Góra.

Warum sich die Stettiner so schwer mit sich selbst tun, hat viel mit Warschau zu tun und der Missachtung, die die polnische Hauptstadt der westlichsten Großstadt des Landes entgegenbringt. Der Stettiner Publizist Wiciech Lizak sieht jedoch noch einen anderen Grund: Nach der Westverschiebung der polnischen Grenzen 1945, meint er, habe jede ehemals deutsche Stadt schnell ihre polnische Identität gefunden. Nach Breslau seien die Professoren aus Lemberg gezogen, nach Danzig die Bürger von Wilna. Stettin dagegen sei von Bauern besiedelt worden, die Universität wurde erst 1985 gegründet. „Stettin“, schlussfolgert Lizak, „hat ein Problem mit seinen Eliten.“

Minderwertigkeitskomplexe sind tatsächlich bis heute spürbar, nicht nur im Verhältnis zu Berlin. Da wählen die Stettiner einen Stadtpräsidenten, der wichtige Investitionen verschleppt, weil er kein ausländisches Kapital in seiner polnischen Stadt haben will. Da wird eine Warschauer Journalistin mit Schimpf und Schande belegt, weil sie über die Provinzialität der Stadt und ihrer Politiker geschrieben hat. Da blockiert die polnische Staatsbahn die Eisenbahnverbindung mit Berlin, weil diese angeblich nicht wichtig sei. Läge Stettin nicht an der Grenze, wäre es einfacher: Da wäre Stettins selbstgewählter Weg in die Isolation ein innerpolnisches Problem. Hier aber betrifft er eine Region, zur der auch Deutschland gehört.

Aber es gibt auch das andere Stettin. Das Teatr Kana, ein weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekanntes Off-Theater, ist schon lange auch in Berlin auf Tour, zwischen Kreuzberg und Stettin gibt es eine Städtepartnerschaft, der Kulturaustausch ist in Gang gekommen.

Es wäre freilich ein Fehler, von Berlin aus mit dem Finger nur auf die Oderstadt zu zeigen. Ängste vor einer allzu starken deutschen Hauptstadt gibt es nicht nur in Stettin, sondern auch den kleineren Städten im Grenzgebiet, in Zielona Góra oder in Gorzów, ja sogar in Potsdam und in Cottbus. Namentlich Berlins Wirtschaftssenator Harald Wolf weiß darum. Das Wort vom Berliner Hafen in Stettin hat er schon lange nicht mehr benutzt, lieber spricht er von der Oderregion. Ein Hafen dieser deutsch-polnischen Region zu sein, das ist etwas anderes als ein Hinterland von Berlin. Und wenn Berlin nicht die Hauptstadt ist, sondern nur Partner, fällt es auch Zielona Góra und Cottbus leichter, sich mit Berlin und untereinander zu vernetzen.

Aber vielleicht sind es sowieso nicht nur die wirtschaftlichen Impulse, die die Europäisierung im Grenzgebiet zwischen Berlin und Stettin voranbringen, sondern auch das kulturelle Zusammenwachsen. Allein der Zuwachs an Touristen zeigt, wie die Neugier aufeinander gewachsen ist. Wie die Region einmal aussehen wird, erfährt man nicht im Amtszimmer der Politiker oder aus den Leitbildern der Regionalplaner, sondern an den Stränden von Usedom und Wolin.