: Dritte Generation Stütze
Kein Unterschichtentheater, sondern ein furios beginnendes Anti-Diskriminierungs-Stück: „White Trash“ von Andreas Kriegenburg wird am Thalia in der Gaußstraße uraufgeführt
von Carolin Ströbele
„Würdest du für eine Arbeitsstelle töten?“, fragt die samtige Psychologenstimme aus dem Off. Der junge Mann im Kapuzenpulli steht peinlich berührt vor dem Mikro und weiß nicht, was er jetzt sagen soll. Auch wenn im Publikum noch gekichert wird, ist das der Punkt, an dem Andreas Kriegenburgs Projekt White Trash auf einmal kippt – und verdammt spannend wird.
„White Trash“ – dieser Begriff stand lange für ein weit entferntes gesellschaftliches Phänomen, für die Verarmung des weißen Mittelstandes in den USA: Trailer-Parks, Eminem, ein bisschen Million Dollar Baby. Nun sind wir auch in Deutschland bei der „dritten Generation Stütze“ angelangt und haben unsere eigenen Schlagworte wie Hartz IV und ALG II. Aber wir können uns immer noch sehr bequem auf dem Sofa zurücklehnen und mit Harald Schmidt über das „Unterschichtenfernsehen“ lachen. Und genau bei dieser Attitüde packt Kriegenburg seine Zuschauer: Sein Projekt, das er mit den Absolventen der Hochschule für Musik und Theater Hamburg nun uraufgeführt hat, reißt den Zuschauern die Fernbedienung aus der Hand und dreht den Spieß um.
„Mein Vater hat meine Mutter immer geschlagen, wenn er betrunken war“: Die sechs Jugendlichen, die da mit Kapuzenpullis und Trainingshosen auf der Bühne stehen (Rolf Bach, Daniel Hoevels, Julia Köhn, Julia Nachtmann, Johannes Schäfer und Anjorka Strechel), tragen am Anfang die Gemeinplätze vor, die man gerne hören will als Oberschichten-Theaterbesucher. Aber Kriegenburg liefert diese Art des Betroffenheits-TV nur vordergründig. Er hat sich bei seinem Projekt zwar an der Interviewsammlung „Menschen in Randgebieten“ orientiert, die die beiden deutschen Soziologen Frank Schultheis und Kristina Schulz mit Jugendlichen in ganz Deutschland geführt haben. Aber er bricht immer wieder ganz bewusst mit der Position des Beobachters, des Interviewers – „ihr seid hier im Theater“, das hält er seinem Publikum immer wieder vor Augen. Und holt es damit aus der Rolle des Voyeurs in die des unmittelbar Betroffenen.
Auf einmal richten sich die Fragen des öligen Psychologen nämlich nicht nur an die Jugendlichen, die alleine und entblößt vor dem Mikro stehen, sondern an jeden Zuschauer. „Glaubst du, dass du ein nützlicher Mensch bist?“, fragt die Stimme. „Es gibt zwei Arten von Menschen: die einen haben Arbeit, die anderen haben viel, viel Zeit.“
Kriegenburg hat ein Anti-Diskriminierungsstück inszeniert. Und damit den Nerv einer Zeit getroffen, in der in den Medien ernsthaft über Fußfesseln für Langzeitarbeitslose diskutiert wird. Einer Gesellschaft, in der zwar peinlich darauf geachtet wird, dass Minderheiten korrekt bezeichnet werden, aber gleichzeitig ein Begriff wie „White Trash“ bedenkenlos kultur- und salonfähig wird.
Kriegenburg zollt ihnen Respekt, seinen „Wegwerf-Jugendlichen“. Auch wenn sie sich nur einer SMS- und Restposten-Sprache bedienen können, behaupten sie sich mit einer unglaublichen Körperlichkeit. Leider findet die Inszenierung nach dem furiosen ersten Teil nicht mehr in ihr Tempo zurück, auch wenn die fantastischen Darsteller drei Stunden lang vollen Einsatz geben. Erst am Schluss kommt Kriegenburg wieder bei seinem Grund-Konzept an: Die Jugendlichen sitzen auf dem Sofa, abgeschlafft und fertig. Auf einmal richten sie ihre Fernbedienungen wie eine Waffe auf das Publikum – und zappen es weg.
Weitere Vorstellungen: 1. + 3. Mai, 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße