: Vollmond und auflaufende Flut
Mythen über Schwangerschaft und Geburt gedeihen auch in Zeiten von Ultraschall- und Fruchtwasser-Untersuchungen gut. Die freiberufliche Hebamme Dagmar Riemrich (43) aus Bremen kennt die meisten Gerüchte aus eigener Erfahrung
taz: Welche Mythen rund um die Geburt sind Ihnen schon begegnet?
Dagmar Riemrich, Hebamme: Viele Frauen meiden während der Schwangerschaft den Kontakt zu Menschen, die im Sterben liegen – als wäre das nicht gut für das Karma des Babys. Sodbrennen während der Schwangerschaft soll angeblich ein Anzeichen dafür sein, dass das Kind viele Haare hat. Doch das ist kompletter Unsinn.
Aber auch unter Hebammen kursieren Mythen: Neugeborene gelten als Glückskinder, wenn sie mit einer intakten Fruchtblase auf die Welt kommen. „Himmelsgucker“ werden Babys genannt, deren Gesicht nach oben gedreht ist. Auch das gilt als positiv.
Glauben denn auch Hebammen an solche Omen?
Nein, die meisten sicherlich nicht. Sie wollen den Eltern einfach etwas schönes sagen.
Mit welchem Gerücht werden Sie am häufigsten konfrontiert?
Viele glauben, dass die Geburt durch Vollmond ausgelöst wird. Oder durch die Flut. Selektive Wahrnehmung hält solche Mythen am Leben. Die Flut läuft sechs Stunden lang auf – und was als Moment der Geburt gilt, ist ja nicht festgelegt. Egal, ob in dieser Zeit die Wehen einsetzen oder die Nabelschnur durchschnitten wird – die Geschichte wird scheinbar bestätigt.
Warum halten sich solche Geschichten immer noch?
Die Sache mit dem Mond ist eben auch ein bisschen romantisch – viele Menschen hätten das gerne so. Es gibt Druck von außen auf die Eltern, alle möglichen Untersuchungen machen zu lassen, Geheimnisse bleiben da nicht. Dabei kann man trotz der neuen Technik viele Krankheiten oder Behinderungen vor der Geburt gar nicht erkennen.
„Behinderung muss nicht sein“ – ein moderner Mythos?
Das kann man so sagen. Auffällig ist auch, dass Eltern heute alles tun, damit das Kind optimal gedeiht. Manche Frauen schlucken Medikamente während der Schwangerschaft, die angeblich gut für die Leistungsfähigkeit des Kindergehirns sein sollen. Die Ansprüche und Erwartungen sind groß geworden – das liegt an unserer Form des Lebens.
War das früher anders?
In den achtziger Jahren waren die Eltern eher bemüht, dem Kind einen möglichst kuscheligen Empfang zu bereiten. Damals war eine Geburt in Abwesenheit des Vaters undenkbar – jedenfalls bei Akademikern. Das ist heute deutlich anders geworden.
Kann denn ein Vater bei der Geburt überhaupt nützlich sein, oder ist das auch ein Mythos?
Das hängt von der Beziehung ab. Es gibt Frauen, die sich in der Anwesenheit ihres Partners nicht gehen lassen können – die machen sich noch Gedanken um sein Wohlergehen, während sie schon von den Wehen geschüttelt werden. Vielen Gebärenden hilft aber die Anwesenheit einer vertrauten Person zwischen den fremden Ärzten und Schwestern sehr. Sie haben dann das Gefühl, einen Teil der Verantwortung abgeben zu können. Interview: Peter König