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Archiv-Artikel

Raus zum 1. Mai!

Zum Beispiel zur körperlichen Ertüchtigung bei der Frühlings-Radtour entlang der Spree. Die reinste Idylle! Vom anstrengenden Oberlausitzer Hügelland durch den Spreewald nach Fürstenwalde in Brandenburg. Auf der Strecke gibt es genug reizvolle Möglichkeiten zum Bleiben, Rasten und Schauen

VON GÜNTER ERMLICH

Selbst der große Nil, tief in Afrika, hat nur zwei Quellen: Der Weiße Nil entspringt in den Gebirgen von Ruanda und Burundi, der Blaue Nil im Hochland von Äthiopien. Und die kleine Spree? Von wegen eine Quelle! Nein, gleich deren drei müssen es sein! In Ebersbach (die schönste), Neugersdorf (die wasserreichste) und in Eibau (die höchstgelegene) – alle tief im Osten nahe der deutsch-tschechischen Grenze.

Wir starten unsere Tour auf dem Spreeradweg an der dritten Quelle, im Buchenwald Kottmar nahe Eibau. Hier, 478 Meter über NN, entweicht die Spree als Rinnsal dem harten Fels der Blauen Steine und macht sich auf die 385 Kilometer lange Reise nach Berlin, wo sie in die Havel mündet. „Wull’n mer de Berliner fubb’n, brauch mer ock de Spraa zustubb’m“ (zustopfen), drohen die Oberlausitzer in mundartlicher Niedertracht.

Unerwartet tritt ein Männlein mit schwarzem Riesenschnäuzer, grauem Schlapphut und rot kariertem Holzfällerhemd hinter dem Baum hervor. Der Zwitter aus Rumpelstilzchen und Rübezahl ist Zwerg Gerbod, der Wald- und Wildhüter aus der Spreequell-Sage. Er betröpfelt uns mit eisigem Spreewasser, klopft dabei Sprüche („Nun kniet sie hin, das ist die Ulla und nicht die Schmidt!“) und überreicht uns im Namen des Fremdenverkehrsvereins Kottmar e. V. den Taufschein. Ein touristisches Minispektakel für angemeldete Gruppen. Danach gibt’s Räucherwurst und Eibauer Schwarzbier. Eigentlich brauchten wir jetzt Stützräder.

Zunächst geht es auf- und abwärts durch das Oberlausitzer Hügelland, die Konditionsschwachen strampeln sich ganz schön ab, kommen aus der Puste. Gott sei Dank lädt aber schon bald die erste Sehenswürdigkeit zum Verschnaufen ein: das älteste erhaltene, mit Schiefer verkleidete Umgebindehaus in Neusalza-Spremberg. Die für die Gegend charakteristischen Umgebindehäuser sind eine Art Kreuzung aus Holzblockstuben slawischer Herkunft und altfränkischen Fachwerkhäusern.

Die Spree schlängelt sich jetzt durch grüne Wiesen, noch ist sie ein Bach, ihr natürliches Bett kaum breiter als der Radweg, der mit einheitlichem Logo – mäandernder blauer Fluss, grüner Berg, Brandenburger Tor – fast idiotensicher beschildert ist. Nur für kurze Streckenabschnitte müssen wir auf wenig befahrene Landstraßen ausweichen. Das Landschaftsbild bestimmen sanfte Hügel, Mischwälder, entrückte Dörfer. Wie das adrette, von 17 Sonnenuhren dekorierte Taubenheim, in dem ein gewisser Hermann Zumpe (1850 bis 1903), Mitarbeiter von Richard Wagner, seine Kindheit verlebte. Als königlich-bayerischer Generalmusikdirektor starb er in München.

Rast im Landhotel „Zur guten Einkehr“ in Grubschütz kurz vor Bautzen. Familie Mazalla pachtete den ausladenden Vierseitenhof, zu DDR-Zeiten Kirchengut, kurz nach der Wende vom Domstift, um als „Bett&Bike“-Betrieb Radfahrern und anderen Gästen Unterkunft zu bieten. Frau Mazalla, mit schwarzer Haube, weißer Schürze und Blümchenbluse hübsch gewandet, tischt uns am Abend köstliche sorbisch-sächsische Spezialitäten auf: Hochzeitssuppe, Rinderkochfleisch mit Knödeln und reichlich Meerrettich. „Die Meerrettichsoße muss so scharf sein, dass die Augen tränen“, erklärt die Wirtin glücklicherweise kurz vor dem ersten Biss und erzählt später von ihrem Sorbentum, wie sie die Sprache, Kultur und die Traditionen pflegt. Denn wir sind mitten in Sorbenland. 60.000 Sorben leben heute noch in der Lausitz, Nachfahren der slawischen Stämme, die während der großen Völkerwanderung im 6. Jahrhundert diese Gegend besiedelten.

Zur Verdauung von Meerrettich & Co. spazieren wir eine nächtliche Runde mit der „Türmerin von Bautzen“ durch ihre berühmt-berüchtigte Stadt. Denn Bautzen war in der DDR ein Unort, es stand sinnbildlich für Unfreiheit. „Bautzen II“ war der „Stasi-Knast“ für politische Gegner des SED-Regimes. Nicht nur im Kerzenschein der Türmerin, sondern auch am nächsten Morgen bei Sonnenlicht reiben wir uns aber ungläubig die Augen: Bautzen ist eine Übernachtung wert. Die mittelalterliche Altstadt besitzt 1.500 denkmalgeschützte Bürgerhäuser, die nach der Wende zu 90 Prozent restauriert wurden, hat viele Türme und noch mehr Gaststätten. Von der Friedensbrücke über das tief eingeschnittene Tal der Spree/Sprjewja wandert der Blick zur Altstadt auf dem Felsplateau und bleibt an der trutzigen Alten Wasserkunst und der strahlend weißen Ortenburg hängen.

Nach Bautzen liegen die ärgsten Hügel hinter uns, wir können locker Strecke machen. Blauer Himmel, gelbe Rapsfelder, perfekte Farbharmonie. Den Gasthof „Muskelkater“ lassen wir links liegen und radeln stramm weiter durch die Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft, vorbei an aufgefüllten, mit Kiefern renaturierten „Tagebaunachfolgelandschaften“, bis das Großkraftwerk Boxberg mit seinem Ensemble aus Kühlwassertürmen und Schornsteinen auftaucht. Ein Stück weiter verliert die zweifelhafte Industrieästhetik endgültig ihren Reiz: Fast bis zum Horizont reicht das hässliche, abgrundtiefe Loch, in dem noch immer mit gigantischen Abraumförderbrücken und Eimerkettenbaggern Braunkohle abgebaut wird.

Bei Spreewitz passiert die Spree sanft fließend die Landesgrenze vom Freistaat Sachsen nach Brandenburg, bevor sie in die Spremberger Talsperre eintaucht. Der See, bei Normalstau 960 Hektar Wasserfläche bedeckend, beliefert nicht nur die Kraftwerke mit Brauchwasser, sondern versorgt in regenarmen Sommern auch den Spreewald mit flüssigem Nachschub.

Die Sonne strahlt mit voller Kraft. Da kommt der Löschzug der „Spremberger Radl-Post“ gerade recht, der uns neben dem Radweg im Kiefernforst erwartet. Der umgebaute Feuerwehrwagen, mit richtiger Kühlung und Zapfanlage, kann maximal 50 Liter Bier verspritzen und dient so manchem Vereinsfest nicht nur als Augenweide.

Ein paar Kilometer später radeln wir in den Branitzer Park bei Cottbus. Hermann Fürst von Pückler-Muskau, der begnadete Gartengestalter, verwandelte das heruntergekommene Familiengut ab 1845 in einen zonierten Landschaftspark nach englischem Vorbild und seiner eigenen Vorstellung von „idealisierter Natur“. Er habe „aus der Sandbüchse eine Oase geschaffen“, sagt Stiftungsdirektor Bertold Ettrich. Der heutige Hausherr von Branitz ist kein dröger Verwalter einer Kulturimmobilie, sondern ein Kunstvermittler, der uns mit Poesie und Bilderkraft die Pückler’sche Landschaftsarchitektur näher bringt.

Nach seinem Tod im Jahr 1871 wurde Fürst Pückler im „Tumulus“, einer Seepyramide, begraben. Er wünschte sich eine chemische Bestattung, sein Herz sollte in einem Säurebad aufgelöst werden, er wollte möglichst schnell wieder in den Naturkreislauf eingehen. Und für immer seinem Park verbunden bleiben. Sein Wille geschah.

Hinter Cottbus verläuft der asphaltierte Radweg auf dem Hochwasserschutzdeich. Die inzwischen kanalisierte, von Pappeln und Buchen gesäumte Spree bleibt links im Blick. Zwei Rehe äsen auf der Wiese, Frösche quaken, ein Bussard kreist über uns. Gleich im Dutzend staksen Störche. Wenn nur der fiese Gegenwind nicht wäre, der an unseren Kräften zehrt. Obendrein verfolgen uns düstere Wolken.

Der Spreewald. Zusehends verästelt sich der Fluss, wird zum Labyrinth von Wasserarmen: Hauptspree, Großes Fließ, Nordumfluter, A-Graben, Mittelkanal. Auf einer Birkenallee fahren wir durch ein Sumpfgebiet mit üppigem Pflanzenwuchs, überqueren auf Holzbrücken, so genannten Bänken, die kreuzenden Fließe. Hier ist es schwül wie in den Tropen. Wenn nur die fiesen Stechmücken nicht wären … „Vorsicht, freilaufende Schafe und Hühner“, warnt ein Schild. Zu Recht. Denn inzwischen gurken bedrohlich viele Samstagsfahrer durch den Spreewald.

Sauregurkenzeit? Bei Karl-Heinz Starick nie. Der Mann aus Lehde leitet das Gurkenmuseum. Jedes Jahr im Juli wählt eine Jury die Gurkenkönigin. Neben Spreewaldtracht und Kenntnissen der Region müssen Bewerberinnen zur Kostprobe eine nach geheimem Familienrezept (120 Rezepturen sind bekannt) eingelegte Gurke mitbringen. Wer Gurkenkönigin wird, hat die knackigste Königsgurke geliefert. Die darf natürlich nur im Gurkenmuseum von Karl-Heinz Starick verkostet werden.

Wir verspeisen lieber im Orangerierestaurant von Schloss Lübbenau den „Brandenburgteller“ (Kalb, Kaninchen und Schlosskartoffeln). 47 Jahre nach der Enteignung erhielt die gräfliche Familie zu Lynar ihr Anwesen zurück, das in DDR-Zeiten zum Computerschulungszentrum degradiert wurde. Sie restaurierte das klassizistische Schloss und richtete es als elegantes Hotel her.

Spreewald unter. Draußen schüttet es aus Kübeln. Regenresistente Radfahrer strampeln sich im gelben Ölzeug ab, Spreewald-Gondolieri staksen Ausflugskähne mit beschirmten Touristen vorbei. Wir sind inzwischen beim Nachtisch angekommen, Plinsen mit Obst, und goutieren das südliche Ambiente, das Gräfin Beatrix von Lynar, die mit ihrer Familie lange in Portugal lebte, in der Orangerie verwirklicht hat: gelbe Wände, Terrakottaboden, blaue, handbemalte Fliesen.

Hinter dem Spreewald bündeln sich die vielen kleinen Wasserarme wieder zu einer großen Spree. Ein Pirol flötet, auf dem Strommast brütet ein Fischadler. Auen- und Kiefernwälder wechseln sich mit großen Seen ab. Im Forsthaus an der Spree, mitten im Wald gelegen, machen wir auf der Holzterrasse Rast. Kaffee und Kuchen. Die reinste Idylle. „Vor der Wende war das ein abgeschirmtes Objekt der Stasi“, erzählt uns Anja Stiegemann, die das Objekt mit ihrem Partner betreibt. „Hier wurden RAF-Terroristen zu DDR-Bürgern ausgebildet.“ Silke Maier-Witt, Christian Klar und die ganze Schar. Überwachungskameras, scharfe Hunde, Patrouillen mit Maschinenpistolen. Heute geht es hier ziviler zu: Die neuen Forsthausbetreiber bieten Ferienlager und Fitnesskurse an.

Holpernd fahren wir über Stock und Stein. Graf von Hardenberg erlaubt nicht, dass in seinem Wald auf Asphalt geradelt wird. Macht nichts, in Fürstenwalde ist Schluss, die Regionalbahn wartet. Wir haben genug erfahren und lassen die Spree allein nach Berlin fließen.