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Archiv-Artikel

Diese angespannte Ruhe

Mit introvertierter Sound-Ästhetik pflegt das Münchner Jazz-Label ECM ein klar erkennbares Profil. Doch die Grenzen zu Klassik und Weltmusik sind längst fließend

VON CHRISTIAN BROECKING

Drei, vier magische Sekunden, in denen scheinbar nichts passiert: Eine typische ECM-Aufnahme beginnt erst mal still. Als Manfred Eicher 1969 mit geliehenen 16.000 Mark sein Label „Editions of Contemporary Music“, ECM, gründete, konnte man noch nicht ahnen, was danach kommen würde. „Free at Last“ hieß das erste ECM-Album mit der Nummer 1001, einer Trioaufnahme des afroamerikanischen Pianisten Mal Waldron. Auf „Afric Pepperbird“, 1970 veröffentlicht, spielte dann ein völlig unbekannter Saxofonist aus Norwegen namens Jan Garbarek in der Tradition des lauten, aggressiven Free Things.

Damals war das Label noch vier Jahre von dem entfernt, was zum inneren, ja introvertierten ECM-Sound werden sollte. Doch der 1943 geborene Produzent Eicher förderte nicht nur den norwegischen Saxofonisten Garbarek. Auch der Gitarrist Pat Metheny gab 1975 mit „Bright Size Life“ sein Studiodebüt bei ECM, und zwei junge amerikanische Pianisten, Keith Jarrett und Chick Corea, bewirkten schon Anfang der Siebziger große Verkaufserfolge und internationale Aufmerksamkeit für das noch kleine Münchner Label.

Aus heutiger Sicht weist ECM wohl eine deutlich wiedererkennbare Sound- und Cover-Ästhetik auf. Die stilistischen Grenzen sind dennoch fließend, und mit der vor zwanzig Jahren initiierten „New Series“ hat Eicher den Label-Katalog sogar noch entscheidend erweitert: Jan Garbarek und Keith Jarrett hatten wenigstens noch gemeinsam, dass sie aus der Jazztradition kamen und die spontane Improvisation als Rahmen akzeptierten – auch dann noch, als bei Garbarek zunehmend folkloristische Stimmungen erkennbar wurden. Doch mit Steve Reich, Meredith Monk und Arvo Pärt verpflichtete Eicher später auch wichtige Vertreter der notierten Musik.

In den letzten Jahren erhielt Eicher dafür zahlreiche Auszeichnungen, 2002 sogar den begehrten Grammy als „Klassik-Produzent des Jahres“. Der Sound von ECM reiche „tiefer als eine gut erzählte Geschichte“, schwärmt der amerikanische Multiinstrumentalist Ralph Towner, der über drei Dekaden hinweg zahlreiche Aufnahmen für ECM gemacht hat: „Er versetzt mich an einem magischen Ort.“

Mit Namen wie Garbarek, Keith Jarrett und Towner zeugt der ECM-Katalog von Kontinuität. Anders im Falle des italienischen Jazztrompeters Enrico Rava, der Ende der Sechzigerjahre in New York politisch motivierten Avantgarde-Jazz spielte und später zu einem führenden Repräsentanten der europäischen Szene wurde. Fast 18 Jahre herrschte Sendepause zwischen dem Münchner Label und Rava, bis im vergangenen Jahr auf ECM seine balladenlastige CD „Easy Living“ erschien. „Wir gingen damals auseinander, weil ich wesentlich mehr Veröffentlichungen haben wollte als nur die eine ECM-Platte alle zwei Jahre“, berichtet Rava. „Heute weiß ich es zu schätzen, einen Produzenten wie Manfred Eicher zu haben, der nicht nur weiß, wie er das Geld für die CD zusammenbekommt, sondern auch versteht, was ich möchte.“

Insbesondere was seine Marketing- und Vertriebsstrukturen angeht, gilt ECM als große Ausnahme unter den unabhängigen Plattenfirmen. Die meisten deutschen Indie-Labels scheuen die hohen Kosten, auf dem amerikanischen Markt Präsenz zu zeigen. Doch für ECM stellen die USA heute den wichtigsten Markt dar. Die Schweiz und Norwegen seien „gut durchdrungen“, aber auch Deutschland weise gute Zahlen auf, heißt es von Labelseite.

Zu den absoluten Bestsellern von ECM gehört Keith Jarretts „The Köln Concert“: Vor dreißig Jahren aufgenommen, hat es sich bis heute über 3 Millionen Mal verkauft. Mit einigem Abstand folgt Chick Coreas 1972er-Platte „Return to Forever“. Erst dann taucht mit „Officium“ von Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble, 1993 in den New Series veröffentlicht, eine Produktion aus den Neunzigerjahren in der hausinternen Verkaufsbilanz auf. Mit Ausnahme von Garbarek, dessen Alben sich vor allem in Europa gut verkaufen, setzt ECM also immer noch die meisten Platten mit amerikanischen Jazzmusikern um.

Dabei wird der ECM-Katalog heute als sehr europäisch wahrgenommen. Von Jan Garbarek über Nils Petter Molvaer und dessen Electro-Ambient-Debüt „Khmer“ bis hin zu Christian Wallumrød hat Eicher von Anfang an einen Fokus auf die norwegische Szene gelegt. 1984 gründete Jan Eric Kongshang in Oslo das Rainbow Studio, den magischen Ort der ECM-Geschichte. In dem 150 qm großen Studio wurden die größten Klassiker des Labels aufgenommen. Im Schnitt rechnet Kongshang dabei mit einer Fünftageprodukton: drei für die Aufnahmen, zwei für Nachbearbeitung und Schnitt. „Recording ist Teamwork“, sagt Eicher, der die Musiker an der Produktion beteiligt.

Dass der junge norwegische Jazzpianist Tord Gustavsen mit seiner ECM-CD „The Ground“ gerade die Pop-Hitparade seines Heimatlandes stürmte, mag mit dem Anspruch des künstlerisch Innovativen vielleicht nicht so recht korrespondieren. Tatsächlich ist massenkompatibler Jazz bei ECM jedoch die Ausnahme geblieben. Es gehe ihm nicht um Trends, sagt Eicher: „Ich produziere Platten, weil ich glaube, dass der Künstler und seine Musik in den ECM-Katalog passen.“

Zu den festen Größen bei ECM zählt nach wie vor Keith Jarrett, zu dessen 60. Geburtstag am 8. Mai bei ECM das Solokonzert-Doppelalbum „Radiance“ erscheint, das vor drei Jahren in Japan aufgenommen wurde. Aktuell prägen jedoch andere Namen das Bild: die Kurt-Weill-Adaptionen des italienischen Klarinettisten Gianluigi Trovesi und des Akkordeonisten Gianni Coscia, „Round about Weill“ sowie das superbe John Cage-Tribut des jungen norwegischen Jazzpianisten Christian Wallumrød „A Year From Easter“.

Das Impulsive der Anfangszeit mag einer manchmal geradezu aufdringlich gespannten Ruhe gewichen sein. Doch mit Musikern wie Christian Wallumrød kommt nun eine neue, von Eicher produzierte Musikergeneration zum Zuge, die mit ECM-Platten von Garbarek und Jarrett aufwuchs und für die es heute ganz selbstverständlich ist, Jazzimprovisation mit regionaler Musiktradition zu verbinden.