: Zwischen Stolz und Stigma
VON BARBARA DRIBBUSCH
Eine Arbeiterschicht im klassischen Sinne gibt es heute gar nicht mehr!
Stimmt so nicht. Zwar ist der Anteil der Arbeiterschaft an den Erwerbstätigen im Westen von 49 Prozent im Jahre 1950 auf heute knapp 30 Prozent zurückgegangen, während die Zahl der Angestellten wuchs. Doch immerhin stufen sich noch 25 Prozent der Westdeutschen als „der Arbeiterschicht“ zugehörig ein. Interessanterweise weicht die subjektive Selbsteinstufung der BürgerInnen im Westen also von der objektiven Zuordnung ab – ein Zeichen, dass man mit dem Begriff der „Arbeiterschicht“ in den alten Bundesländern offenbar nach wie vor eher so etwas wie „Unterschicht“ assoziiert, also den Begriff eher negativ besetzt.
In Ostdeutschland ist die Gefühlslage anders: Dort empfinden sich 42 Prozent der Befragten als der Arbeiterschicht zugehörig, obwohl heute nur noch rund 37 Prozent der Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern tatsächlich Arbeiterinnen und Arbeiter sind. In den neuen Bundesländern steht der Begriff des Arbeiters offenbar höher im Kurs. Allerdings zeigt sich im Zeitvergleich ein stark abfallender gesellschaftlicher Trend. Anfang der 90er-Jahre hatten sich in Ostdeutschland noch 59 Prozent der BürgerInnen als „Arbeiter“ gefühlt.
Der Status von Arbeitern und Angestellten wird zunehmend angeglichen!
Da ist was dran. Heute unterscheidet man die „Arbeiter“ von den „Angestellten“ durch zwei Faktoren: Einmal gibt es die rentenrechtliche Zuordnung, Arbeiter sind bei den Landesversicherungsanstalten (LVR) gemeldet, Angestellte hingegen bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA). ArbeiterInnen bekommen darüber hinaus einen „Lohn“, Angestellte hingegen ein „Gehalt“.
Die Unterscheidung zwischen „Lohn“ und „Gehalt“ wird zunehmend überflüssig: So hat die Metall- und Elektroindustrie einen Entgeltrahmentarifvertrag (ERA) vereinbart, nach dem die Löhne und Gehälter gleichwertiger Beschäftigter einander angeglichen werden. Der ERA wird bis 2007 stufenweise umgesetzt, dann entfallen die Begriffe „Lohn“ und „Gehalt“, alle Beschäftigten bekommen nur noch ein „Entgelt“. Damit will man der Tatsache Rechnung tragen, dass heute auch Arbeiter in der Produktion mit computergestützter Fertigung geistige Arbeit leisten.
Viele „kleine“ Angestellte im Dienstleistungssektor, beispielsweise Wachschützer oder ungelernte Verkäuferinnen, bekommen heute Entgelte, die nur noch knapp über der Armutsgrenze liegen. Auch diese Verschiebung macht die Schichtung zwischen ArbeiterInnen und Angestellten hinfällig.
Früher reichte es gerade zum Leben, heute zählen Arbeiter zur Mittelschicht!
Im Jahre 1960 verdienten ArbeiterInnen im produzierenden Gewerbe in Westdeutschland im Schnitt umgerechnet 264 Euro brutto. Hochgerechnet auf heutige Preise wäre das ein Armutslohn, nämlich ein Bruttomonatslohn von 920 Euro. Im Verhältnis zu anderen Erwerbstätigen in den 60ern waren die ArbeiterInnen aber keinesfalls arm: Angestellte verdienten damals auch lediglich 273 Euro. Viele Leute hatten kein Auto, die Mieten waren niedrig, die Urlaubsreisen bescheiden, das Essen im Restaurant war die Ausnahme. Da alle weniger konsumierten, empfanden sich die Menschen im Vergleich mit anderen nicht als arm.
Doch allen geht es heute besser: Während die Preise in den vergangenen 45 Jahren nur auf das Dreieinhalbfache kletterten, haben sich die Löhne im gleichen Zeitraum fast verzehnfacht. Heute bekommen ArbeiterInnen in Westdeutschland im Durchschnitt monatlich 2.594 Euro brutto (Osten: 1.920 Euro). Die Sätze für die Angestellten liegen im Schnitt bei 3.470 Euro (Osten: 2.572 Euro). Die Gehälter der Angestellten sind also stärker gestiegen als die Löhne – trotzdem zählen Facharbeiterlöhne heute zu den Mittelschichtseinkommen.
Früher schafften mehr Arbeiterkinder als heute den sozialen Aufstieg!
Stimmt so nicht. Im Westen sind im Vergleich zu den 70er-Jahren die „Vererbungsraten“ bei Facharbeitern in etwa gleich geblieben. Das heißt: Rund 40 Prozent der Söhne von Facharbeitern und Meistern landen beruflich in einer ähnlichen Position wie ihre Väter; in den 70er-Jahren waren es noch 43 Prozent. Der männliche Nachwuchs der un- und angelernten Arbeiter bleibt zu 23 Prozent auf derselben Stufe wie die Väter, in den 70er-Jahren waren es noch 24 Prozent. Zum Vergleich: Bei den leitenden Angestellten, höheren Beamten und Freiberuflern treten nur 30 Prozent der Söhne in die Fußstapfen der Väter. Besonders die Facharbeiterschicht ist also über die Generationen hinweg relativ homogen.
Die Töchter der Facharbeiter „erben“ übrigens erwartungsgemäß eher selten die Position des Vaters. Die erwerbstätigen Töchter von Vätern hingegen, die einfache oder mittlere Angestellte oder Beamte waren, treten immerhin zu 65 Prozent in die Fußstapfen ihrer Erzeuger.
Im Osten ist die Arbeiterschicht besonders generationenbeständig: Dort erreichen 50 Prozent der Söhne von Facharbeitern und Meistern die gleiche Stufe wie ihre Väter, vom männlichen Nachwuchs der un- und angelernten Arbeiter bleiben aber nur 19 Prozent in der gleichen Position wie die Väter.
Die Erwerbslosen haben die ArbeiterInnen als neue Unterschicht abgelöst!
Stimmt nur teilweise. Die Fragen der Schichtabgrenzung waren schon immer besonders heikel, auch für die Arbeiterschaft. Im 19. Jahrhundert beispielsweise sprach man vom „Subproletariat“, dem „Plebs“. Dazu gehörten Arbeitslose, Tagelöhner und Wohnungslose. Höher auf der Leiter stand das „Proletariat“, die Arbeiterklasse, dazu zählten die Werktätigen in den Fabriken. In den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts schließlich wurden die Angestellten, die mit Bürotätigkeiten, Führungs- und Verwaltungsaufgaben der Unternehmer betraut wurden, zunehmend als neue, darüberliegende Schicht beschrieben. Sie wurden spöttisch als „Industriebeamte“ bezeichnet, galten die Angestellten doch als besonders arbeitgeberfreundlich.
Mit der Zeit wandelten sich die Distinktionsbezeichnungen. So stand der Begriff des „Hilfsarbeiters“ in den 60er-Jahren als Synonym für die Chancenarmen ohne Berufsausbildung, die es nicht auf attraktive Facharbeiterposten geschafft hatten.
Heute, in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit, stellt sich die Frage der Schichtabgrenzung noch einmal neu. Denn die Arbeitslosen sind eine wachsende Schicht, fast fünf Prozent der Bevölkerung beziehen heute ihren Lebensunterhalt direkt oder indirekt aus der Arbeitslosenunterstützung. Im Jahre 1961 waren das im Westen nur 0,1 Prozent.
Das Risiko der Arbeitslosigkeit ist nach wie vor sehr ungleich auf die Schichten verteilt: Leute ohne Berufsausbildung sind überproportional häufig unter den Arbeitslosen vertreten. Und AkademikerInnen tragen nach wie vor ein geringeres Risiko der Erwerbslosigkeit als FacharbeiterInnen.
Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe hat die Verarmungsängste gerade in den Mittelschichten erheblich verstärkt. Denn seit Januar dieses Jahres bekommen alle Langzeiterwerbslosen nur noch das Arbeitslosengeld II in Höhe der früheren Sozialhilfe. Wie groß die Angst der Erwerbslosen vor Herabstufung ist, zeigt sich am Streit über die Zumutbarkeit von Arbeit. Die Horrorvision, beispielsweise zum Spargelstechen oder zum Parkfegen abkommandiert zu werden, ist letztlich nichts anderes als die alte Angst der FacharbeiterInnen und Angestellten, in die alten Tagelöhnermilieus, also in das „Subproletariat“, herabzusinken.