Was Gauck gesagt hat und was er meint

DEBATTE Betreibt der zukünftige Präsident letztendlich eine Verharmlosung des Holocausts?

Es ist also ein reaktionärer Stinkstiefel, der demnächst Bundespräsident werden wird. Er ist sicher nicht der erste und vermutlich nicht der letzte

VON DENIZ YÜCEL

Er lehne das Internet ab, soll Flaubert gesagt haben, weil es nur dazu führe, dass noch mehr Leute zusammenkommen, um zusammen dumm zu sein. Okay, Flaubert hat das über die Eisenbahn gesagt, aber wer etwas über die Mechanismen von Internetdebatten weiß, dürfte dieser Bemerkung einen gewissen Wahrheitsgehalt zusprechen – sicher auch die Beteiligten der Debatte über Zitate von Joachim Gauck.

Dazu gehört Sascha Lobo, der mir auf Spiegel Online vorgeworfen hat, ich hätte in meiner Kolumne vom Dienstag auf „unredliche Weise“ ein Zitat von Gauck aus dem Zusammenhang gerissen und die eigentliche Aussage ins Gegenteil verkehrt. Da der Disput pars pro toto für die ganze Debatte steht, will ich anhand dessen und anhand eines besonders heiklen Themas – der Einordnung des Holocausts – antworten. Doch zuvor sei die fragliche Aussage von Gauck aus dem Jahr 2006 ausführlich zitert:

„Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocausts. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist. […] Würde der Holocaust aber in einer unheiligen Sakralität auf eine quasireligiöse Ebene entschwinden, wäre er vom Betrachter nur noch zu verdammen und zu verfluchen, nicht aber zu analysieren, zu erkennen und zu beschreiben. Wir würden nicht begreifen.“

Wenn Gauck nur, wie Lobo glaubt, „meinte, dass es gefährlich sei, so zu tun, als könne sich ein Holocaust sowieso nie wieder ereignen und man daher gar nicht besonders erinnern, analysieren, aufarbeiten müsse“, an wen richtete er diesen Appell? Wer außer Nazis und Islamisten hätte da widersprochen? Selbst wenn er nur das gemeint hat, warum hat er es dann nicht so gesagt? Und warum ist er ausgerechnet bei dem Wort von der Überhöhung gelandet?

Nein, wessen Gauck sich hier bedient, ist eine bestimmte Figur des Tabubruchs, das Prinzip des schmierig-verklemmten dirty talks: Natürlich weiß jeder, was sich auf „Schritten“ reimt und wo der Erwin die Heidi anfasst, man muss es nicht sagen. Im politischen Diskurs funktioniert das ähnlich: Ich werfe einen Begriff in den Raum, um ihn verdruckst zurückzunehmen. Aber das entscheidende Wort ist gesagt und beim Publikum angekommen. Indem Gauck die „Überhöhung“ zu einem quasireligiösen Akt erklärt, spricht er nebenbei dem Holocaust die Singularität als wahnhaften und industriellen Mord an Millionen Juden ab. Einfacher ausgedrückt lautet sein Gedankengang: Ja, es gab den Holocaust, wir müssen an ihn erinnern, aber bitte nicht übertreiben und die Kirche im mecklenburgischen Dorf lassen.

Die Rede von „Ersatzreligion Auschwitz“, die man auch bei der Neuen Rechten und anderen hört, ist Ausdruck eines Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Oft: der an die Juden oder Israelis gerichtete Vorwurf, aus Auschwitz Profit zu schlagen; bei Gauck der unterstellte „psychische Gewinn“.

Dieses Bedürfnis nach Schuldabwehr hat Gauck etliche Male demonstriert, allen voran mit seiner permanenten Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus, Regimes wie das in der DDR inklusive.

Wer, so schreibt er im „Schwarzbuch des Kommunismus“, „die konkrete Herrschaftstechnik vergleicht, die dienstbare Rolle des Rechts und den permanenten Einsatz von Terror, der findet genauso Ähnlichkeiten wie bei der Untersuchung der Folgen staatsterroristischer Herrschaft auf die Bürger.“

Doch der Nationalsozialismus hat nicht nur Oppositionelle drangsaliert und ermordet. Das Spezifische war, dass er einen Teil seiner Untertanen aller Bürger- und Menschenrechte beraubte, ehe er sie industriell ermordete. Die meisten deutschen Bürger entsolidarisierten sich mit ihren jüdischen Nachbarn, untereinander aber kuschelten sie sich zur Volksgemeinschaft zusammen.

All das macht Gauck noch nicht zum Antisemiten, und gewiss wird er keiner sein wollen. In der Sache aber betreibt er mitunter auf Grundlage eines sekundären Antisemitismus eine Verharmlosung des Holocausts. Sein Diskurs ist der, wie er bis in die neunziger Jahre unter westdeutschen Konservativen vorherrschte; ergänzt um eine besondere ostdeutsche Sicht.

Es ist also ein reaktionärer Stinkstiefel, der demnächst Bundespräsident werden wird. Er ist aber sicher nicht der erste und vermutlich nicht der letzte.

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