: Labours altes Arbeitstier
AUS LONDON DOMINIC JOHNSON
Was sagt ein Aktivist der britischen Labour-Partei auf der Straße, wenn man ihn bittet, folgenden Satz zu vervollständigen: „Wählt Tony Blair, weil …“? Erst mal sagt er eine ganze Weile gar nichts, lässt den Blick in die Ferne schweifen und seufzt.
Dann fällt dem bärtigen Mann, der in der Sonne neben einem Café im Süden Londons Labour-Flugblätter verteilen soll, doch noch was ein. „Wir haben zwar in Großbritannien Elemente eines präsidialen Systems, aber am Ende ist es die Partei, die ihren Führer aufstellt, und daher vertritt die Führung in einem gewissen Sinne auch die Partei, und wenn man nicht Labour wählt, gewinnen vielleicht die Konservativen unter Michael Howard, und wir wollen doch nicht in diese Zeit zurück, und sogar eine von Tony Blair geführte Labour-Partei wird unser Land voranbringen …“
Ist tatsächlich von Tony Blair die Rede? Dem erfolgreichsten Premierminister in der Geschichte der britischen Linken? Jenem Mann, auf den seine Partei ihre erfolgreichen Wahlkämpfe 1997 und 2001 zuschnitt? Es ist Tony Blair gemeint, aber er hat nicht mehr dieselbe Rolle inne. Wenn die Mehrheit der Leute am 5. Mai Labour wählt, und die Umfrageergebnisse lassen daran kaum noch Zweifel, dann nicht wegen, sondern trotz Blair. Mehr als die Hälfte der Briten hält ihn für einen schlechten Premierminister und einen Lügner.
Ermattung und Gereiztheit
Wie fern erscheinen da die Sonnentage des Mai 1997, als New Labour und mit ihr eine Generation junger, entschlossener Politiker einer 18-jährigen konservativen Herrschaft ein Ende setzten. Damals stand Blair für Frische und Aufbruchstimmung, mit seinem Elan und seiner Energie begeisterte er das Land. In der schwülen Luft des Mai 2005 sind daraus Ungeduld und Fahrigkeit geworden. Ermattung und Gereiztheit stehen ihm ins Gesicht geschrieben – ein Gesicht mit von Schlaflosigkeit zeugenden, kleinen und zuweilen geröteten Augen, in dem sich das einst gewinnende Lächeln immer öfter in ein starres, leicht wildes Grinsen verwandelt.
Dieser Mann, so scheint es, ist für seine Partei nicht mehr das kräftige Zugpferd, sondern eine Belastung. Dass der 51-Jährige verbraucht wirkt, ist da noch das geringste Problem, es zeugt von harter Arbeit. Schwerwiegender ist der Vorwurf, er habe das Vertrauen seiner Wähler missbraucht. Nun war das Markenzeichen von „New Labour“ – wie die Partei sich schon längst nicht mehr nennt – immer, man werde keine traditionelle Labour-Politik machen. Aber im Wahlkampf kommen drei spezifische Punkte hinzu: die Einführung von Studiengebühren trotz der Zusage des Gegenteils vor vier Jahren. Die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge und der gesamten Steuerlast trotz der Zusage „keine Steuererhöhungen“. Und schließlich der Irakkrieg. Die Opposition hat ein Dauerfeuer auf den „Lügner“ Blair gerichtet, dem man „nicht trauen“ kann.
Wegen des Irakkriegs wird Labour regelrecht in die Zange genommen: von Linken und Liberalen, die den Krieg strikt ablehnen. Und von Rechten und Konservativen, die Blair die Irreführung der Öffentlichkeit vorwerfen, weil er den Krieg wider besseres Wissen mit Saddam Husseins angeblichen Massenvernichtungswaffen rechtfertigte statt einfach mit der Notwendigkeit des Regimewechsels. Irak ist das Thema, das diesen Wahlkampf elektrisiert. Blair wird es nicht mehr los, seit der Fernsehsender Channel Four letzte Woche triumphierend ein bislang geheimes Gutachten seines wichtigsten Rechtsberaters präsentierte. Denn das Goldsmith-Gutachten vom März 2003 formuliert erhebliche juristische Probleme einer Irakinvasion, ganz anders als die damals veröffentlichte Kurzfassung. Und gestern tauchten weitere vertrauliche Dokumente auf, wonach Blair schon im Juli 2002 zu überlegen begann, wie sich ein Krieg gegen Irak rechtfertigen ließe – viel früher als bislang bekannt. Seine Gegner sehen darin weitere Beweise für Blairs Regierungsstil, in dem der Zweck die Mittel heiligt, Dienstwege umgangen werden und hinterher die Wahrheit nur so weit herauskommt, wie es gerade passt.
Tony Blairs zweite Amtszeit, die im Juni 2001 begann, sollte ursprünglich eine Zeit innenpolitischer Detailreformen werden. Aber nach drei Monaten kamen die Anschläge des 11. September, und so stand die zweite Amtszeit im Zeichen des Krieges. Blair entschwebte aus den Niederungen der britischen Zustände in die Stratosphäre der Weltpolitik. Er sah sich als Brückenbauer zwischen USA und Europa und als visionärer Heiler des Elends der Welt, von Afghanistan bis Afrika. Die Arbeit zu Hause überließ er seinem Finanzminister und Langzeitrivalen Gordon Brown. Der blähte die Staatsausgaben auf und begeisterte damit die Labour-Klientel. Blair und seine Partei entfremdeten sich.
Ganz neu war das zwar nicht, aber im Wahlkampf entstehen daraus jetzt Momente, die fast an greise sozialistische Staatschefs erinnern, die unversehens auf die Wirklichkeit stoßen. In seinem ersten und einzigen Live-TV-Auftritt zusammen mit den anderen Parteiführern vor Publikum am vergangenen Donnerstag warfen ihm Fragesteller aus dem Publikum vor, welch absurde Blüten seine Gesundheitsreformen trieben: Weil die Regierung den Hausärzten als Plansoll vorgegeben hat, dass kein Patient mehr als 48 Stunden auf seinen Termin warten soll, wird es immer schwerer, überhaupt Arzttermine zu kriegen, und mehr als zwei Tage im voraus geht oft gar nicht. „Ich bin erstaunt“, antwortete Blair: „Das wusste ich nicht.“ Jeder Zeitungsleser und Arztbesucher in England weiß es – gehört der Premierminister nicht dazu? Blair versuchte, das Plansoll zu rechtfertigen: „Der Sinn davon ist, dass jeder ein Minimum an Qualität bekommt.“ Gelächter im Saal. Dem Regierungschef stand der Schweiß auf der Stirn.
Es ist sein Glück, dass die Leute seinen Konkurrenten Michael Howard und Charles Kennedy noch weniger zutrauen. Die Konservativen betonen so sehr ihre Ehrlichkeit, dass es schon wieder glatt wirkt. Die Liberaldemokraten sind auf nationaler Ebene keine ernsthaften Herausforderer.
Dagegen punktet er allemal – Blair, das Arbeitstier. Gern spricht er von „Entscheidungen, die ich treffen musste“. Für die parlamentarische Prozedur und die Gewaltenteilung hat er wenig übrig, und kein Premierminister vor ihm ist so unbekümmert mit britischen Verfassungstraditionen umgegangen. Das lieben viele Briten nicht, aber andererseits mögen sie jemanden, der die Dinge anpackt, statt zu zaudern und abzuwägen. Das gilt gerade für viele Labour-Wähler, die mit den Regeln des Establishments sowieso nichts anfangen können.
Für Blair war die Labour-Partei ein Vehikel, an die Macht zu kommen und dort zu bleiben. Oder war es umgekehrt? Die Machtergreifung von ihm und seiner Clique innerhalb Labours Mitte der 90er-Jahre ist oft ein parteiinterner Putsch genannt worden. Jetzt putscht die Partei zurück. Sie braucht ihn noch einmal zum Sieg. Am liebsten eben einen geschwächten, unglaubwürdigen Blair, der zwar noch Wahlen gewinnt, aber sonst nichts mehr leisten wird – außer dem eigenen Abgang.
Das Versprechen, abzutreten
Er hat versprochen, bei den nächsten Wahlen, vermutlich 2009, nicht mehr anzutreten, und dürfte die Macht vorher seinem Gegenspieler Brown übertragen. Er dementiert nicht, wenn Interviewer ihm unterstellen, in drei Jahren zurücktreten zu wollen. Für Labours Wahlkämpfer ist das die Trumpfkarte.
„Wir sagen den Leuten immer: Ihr könnt trotz Blair Labour wählen, denn bald wird ja Gordon Brown Premierminister“, erklärt eine junge Labour-Wahlhelferin vor einem U-Bahnhof in London. Irak und Blair, bestätigt sie, sind die Dauerprobleme beim Wahlkampf an der Haustür. Sie selbst sei ja auch gegen den Krieg und auch gegen ziemlich viele andere Dinge, für die Blair steht. Dann ruft sie überzeugt: „Aber wir haben schon so viel erreicht! Und es gibt noch so viel zu tun! Es gibt riesige Gegenden voll verelendeter Sozialsiedlungen, wo seit Jahrzehnten überhaupt nichts gemacht worden ist, und wir haben da noch große Pläne, es dauert doch zehn Jahre mindestens, die Dinge dort zu verbessern.“
In solchen Erklärungen schwingt ein deutlicher Unterton mit: Vom Verräter Blair lässt Labour sich nicht kaputtmachen. Wenn diese Partei heute noch von etwas lebt, dann vom ganz alten Idealismus ihrer Gründungszeit vor 100 Jahren, Stein für Stein innerhalb des ewig unvollendeten britischen Kapitalismus eine bessere Gesellschaft zu bauen.
Gerade wenn er visionär war, bediente auch Tony Blair dieses Gefühl. Das ist nun vorbei. Man nimmt es ihm nicht mehr ab. Aber das britische Paradox besteht darin, dass er trotzdem Premier bleiben darf. Die Briten lieben ihre Führer erst, wenn sie sie zurechtgestutzt haben.