Die Entdeckung der Langsamkeit

Polizei vermied am 1. Mai die Bildung klarer Fronten. Eskalationsversuche krawalllüsterner Jugendlicher liefen somit ins Leere. Eine Taktikanalyse

VON GEREON ASMUTH

Auf alten Schlachtengemälden ist es deutlich zu erkennen: So ein richtiges Gemetzel bekommt man nur hin, wenn es klare Fronten gibt. Hier die eigenen Truppen, dort der Feind. Ganz ähnlich lief es lange Jahre auch am 1. Mai in Kreuzberg. Demonstranten auf der einen und Polizisten auf der anderen Seite bildeten Ketten – und dann ging es los. Eine klare Sache.

Wenn man genau diese Klarheit aber verhindern will, ist die Sache wesentlich komplizierter. Beim diesjährigen 1. Mai ist es der Polizei dennoch gelungen. In Kreuzberg war sie am späten Abend zwar massiv präsent. Auch die gern als Ausdruck ihrer Martialität gewertete Kampfmontur trugen die Beamten zur Schau. Dennoch vermieden sie selbst in fast allen brenzligen Situationen die Frontenbildung.

Als etwa gegen 23 Uhr auf der Oranienstraße durch lautes Brüllen und Pfeifen der Menge hunderte offensichtlich krawalllüsterne Jugendliche angelockt wurden, wichen die anwesenden Beamten zunächst schrittweise zurück. Die Polizei hatte die Langsamkeit für sich entdeckt und somit auch die Bewegung der jugendlichen Masse entschleunigt. Die konnte weder den schnellen Abzug der Behelmten als temporären Sieg interpretieren noch eine sich aufbauende Front als Zeichen zum Angriff. Zwar flogen auch hier vereinzelt Flaschen. Doch weil sich die Polizisten quasi in Guerillamanier unter das feiernde Volk mischten, fehlte den Werfern ein eindeutiges Ziel. Die sich anbahnende Krawallstimmung der Jugendlichen lief ins Leere. Das Pfeifen und Brüllen der Menge wurde übrigens nicht, wie viele dachten, von Auseinandersetzungen mit der Polizei ausgelöst – sondern von einer Go-go-Tänzerin im Fenster eines Wohnhauses. Auch dies ein Zeichen für die neue Qualität des 1. Mai.

Wenig später brannten ein paar Pappkartons am Straßenrand. In den Vorjahren wäre dies für die Polizei ein willkommener Anlass für hartes Durchgreifen gewesen – mit Schlagstock, Tränengas und Wasserwerfer, in Szene gesetzt durch aggressiv blinkendes Blaulicht. Von all dem war in diesem Jahr weitestgehend nichts zu sehen. Selbst das fest zum Mai-Ritual gehörende Hubschraubergeknatter fehlte. Stattdessen eilten nur einzelne Beamte zum Brandherd und traten das Feuer aus.

Nun bedeutet Deeskalation keinesfalls die völlige Abwesenheit der Polizei, wie es CDU-Hardliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) gern weismachen möchten. Eine wesentlich exaktere Definition gelang einem Polizeisprecher, als sich auf dem Myfest am Abend die von vielen befürchtete Spontandemo bildete: „Solange es keine Störungen gibt, greifen wir nicht ein.“ Der Eingriff erfolgte erst, als Demonstranten unweit des Springer-Verlags ein Auto umstürzten – und dann zielgenau, nach Beobachtung des Geschehens.

Nach diesem 1. Mai muss sich die Polizei eigentlich nur eines vorhalten lassen: Ihre stupide Haudrauftaktik vergangener Jahre hat sich als folgenschwerer Fehler erwiesen.