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Archiv-Artikel

Alle sind Minderheit in Montreal

LITERATUR „I’m Canadian in my own way“: Am Donnerstagabend lasen Madeleine Thien und Rawi Hage aus Montreal in der Daad-Galerie aus ihren Büchern, die sich mit dem Leben zwischen den Kulturen beschäftigen

VON ANDREAS RESCH

Die Antwort ist pragmatisch. Auf die Frage, warum er, Rawi Hage, als Autor, der Arabisch zur Muttersprache habe und Französisch als erste Fremdsprache, begonnen habe, auf Englisch zu schreiben, erwidert dieser schlicht: „Aus ökonomischen Gründen.“ Der Kreis potenzieller Leser sei eben viel größer. Hage ist einer von zwei Schriftstellern aus Montreal – Madeleine Thien ist die andere –, die am Donnerstag in der gut gefüllten Daad-Galerie aus ihren neuen Romanen lasen. Mit Tagesspiegel-Redakteur Gregor Dotzauer und dem polnischen Literaturwissenschaftler Krzysztof Majer sprachen sie danach über Autorschaft im Kontext bikultureller Lebenserfahrungen.

Hage, 1964 als Angehöriger einer christlichen Minderheit in Beirut geboren, ging 1982 nach New York. 1991 zog er weiter nach Montreal, wo er bis heute lebt. 2008 erschien sein Romandebüt „Als ob es kein Morgen gäbe“, für das er unter anderem mit dem Dubliner Impac-Award ausgezeichnet wurde. Am Donnerstag stellte er seinen zweiten Roman „Cockroach“ vor.

Dieser erzählt in lakonischem Tonfall die Geschichte eines Immigranten und „notorischen Diebes“, der in Montreal von einer unangenehmen Situation in die nächste stolpert. In einer Szene beobachtet er ein wohlhabendes Paar durch die Fensterscheibe eines Restaurants beim Abendessen. Offensichtlich haben sich die beiden nichts mehr zu sagen. Erst als sie den heimlichen Beobachter entdecken und dieser vom Restaurantbesitzer verscheucht wird, finden sie über die gemeinsame Erfahrung zurück ins Gespräch. Der Mann draußen ist für sie ein vor allem mediales Ereignis.

Madeleine Thien wurde 1974 als Tochter chinesisch-malaiischer Einwanderer in Vancouver, British Columbia, geboren und ist somit, anders als Hage, von Geburt an kanadische Staatsbürgerin. Seit 2001 ihr in ihrem Heimatland äußerst erfolgreiches Debüt „Simple Recipes“ erschienen ist, hat sie insgesamt vier Bücher veröffentlicht. Am Donnerstag las sie aus ihrem aktuellen Roman „Dogs at the Perimeter“, das in diesem Jahr in deutscher Übersetzung bei Luchterhand erscheint.

Der Roman handelt von den Massakern der Roten Khmer im Kambodscha der siebziger Jahre. Anhand von Erinnerungen, Träumen und Reflexionen wechselnder Protagonisten verschwimmen Vergangenheit und Gegenwart immer wieder miteinander, werden zur untrennbaren Einheit. Thien, die selbst vor einigen Jahren für fünf Monate in Kambodscha gelebt hat, erzählt, dass sie lange mit sich gerungen habe, ob sie in ihrem Roman tatsächlich über die Gewalttaten der Khmer schreiben könne. Sie habe sich dafür entschieden, da dies aufgrund der zeitlichen Distanz für sie die einzige Möglichkeit gewesen sei, in die Ereignisse einzudringen, sie von innen zu betrachten und nicht nur von außen zu reflektieren.

Auch wenn „Cockroach“ und „Dogs at the Perimeter“ aufgrund ihrer jeweils von Oppositionspaaren wie innen/außen, ich/du, mächtig/machtlos geprägten Codierungen wohl jedes Hauptseminar zur strukturalistischen Literaturtheorie in Entzücken versetzen würden, gehen beide Bücher auf je eigenen Wegen weit über diese Binaritäten hinaus. „Cockroach“, indem der Plot immer wieder ins Comic-hafte oder Surreale überschlägt und man nie genau weiß, auf welcher Realitätsebene man sich gerade befindet. „Dogs at the Perimeter“ aufgrund einer Erzählstruktur, die sich anhand von Perspektivwechseln, Ellipsen und Fragmentierungen an der Textur von Erinnerungen zu orientieren scheint.

Im abschließenden Gespräch ging es unter anderem um Fragen nach der eigenen kulturellen Zugehörigkeit – sie selbst sehe sich weder als Immigrantin noch als Exilantin, sondern als Bürgerin, antwortete Thien – und darum, inwiefern sich Berlin und Montreal voneinander unterscheiden. „In Montreal“, sagte Hage, sei das ganz Besondere, dass sich dort praktisch jeder einer Minderheit zugehörig fühle. Bei Wein und Wraps konnte man anschließend darüber nachdenken, wie es wohl wäre, in Montreal zu leben.