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Archiv-Artikel

„Wer wir sind, hat mit Erinnern zu tun“

VERGESSEN Demenz ist nicht nur ein medizinisches Problem, sondern eines unserer Gesellschaft, unserer Kultur

Gabriele Kreutzner

■ ist stellvertretende Vorsitzende des bundesweiten Vereins Aktion Demenz (www.aktion- demenz.de) und Mitarbeiterin von Demenz Support Stuttgart (www.demenz-support.de). Dieses Unternehmen assistierte unter anderem auch der an Demenz erkrankten Helga Rohra beim Schreiben ihrer Biografie – das im Januar erschienene sonntaz-Interview mit ihr steht zum Nachlesen unter www.taz.de/helga-rohra.

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

sonntaz: Frau Kreutzner, Sie arbeiten in einer Organisation, die „Demenz Support“ heißt. Kann man sich beim Vergessen denn unterstützen?

Gabriele Kreutzner: Nicht beim Vergessen. Es ist eher so: Vergessen und Erinnern sind sehr zentral für unsere Identität. Mit Vergessen und Erinnern gestalten wir unser Bild von uns selbst. Manches vergessen wir daher absichtlich. Andere Arten des Vergessens – und dazu gehört das durch Demenz ausgelöste – sind in unserer Gesellschaft hingegen höchst stigmatisiert. Man kann sich dabei unterstützen, dieses Stigma zu überwinden. Darauf läuft unsere Arbeit hinaus.

Wie meinen Sie das, dass wir absichtlich vergessen?

Wer wir sind, hat mit Erinnern zu tun. Und wir meinen, sehr sicher zu sein, dass wir uns genau erinnern. Aber das ist natürlich ein Mythos, dass alles in unseren Gedanken eins zu eins gespeichert ist. Wenn das Erinnern aber plötzlich auf eine Art brüchig wird, die wir nicht mehr kontrollieren können, dann wird unsere Identität infrage gestellt. Wer sind wir, wenn wir nicht mehr wissen, wer wir waren?

Die Entwürfe von uns selbst gehen dann verloren?

Ja sicher. Als ich anfing, mich mit Demenz zu beschäftigen, galten die Prämissen der biomedizinischen Forschung, die an Zellvorgängen ansetzt. Die ging davon aus, dass man bei Demenz nichts mehr tun könne, und damit war der Fall erledigt. Vor zehn Jahren etwa kamen neue Denkrichtungen aus der Psychologie und der Pflege dazu. Der relationale Subjektansatz – soll heißen: Du bist nicht etwas und bist das für immer, sondern es ist ein stetiges Werden, und es findet im Austausch mit der Umwelt statt.

Was heißt das genau in Bezug auf Demenz?

Dass man zuerst die Person sieht, nicht die Krankheit, weil die Person eben nicht mit der Krankheit verschwindet. Wenn du in Kontakt mit der Person bleibst trotz der Krankheit, stützt du die Person. Das wird immer wichtiger, je weiter die Veränderungen voranschreiten. Wir müssen auf die Stimme der Demenzbetroffenen hören. Was haben sie zu sagen? Und wie können wir verstehen, was sie sagen, selbst wenn sie sprachlich beeinträchtigt sind?

Welche Wahrnehmung wird damit auf den Kopf gestellt, wenn man sagt, Leute mit Demenz haben eine Stimme?

Die traditionell medizinische, die nur die Schädigung, aber nicht die Person sieht. Und die gesellschaftliche Wahrnehmung, die bei Demenz nur an komplett hilflose Betroffene in Spätstadien denkt und dabei bestimmte Ableitungen macht wie: Der kriegt nichts mit. Wir wissen aber gar nicht, was er mitkriegt.

Wie fließen diese neuen Ansätze in Ihre Arbeit ein?

Wir unterstützen die Selbsthilfe der Demenzbetroffenen. Wir organisieren Plattformen, auf denen Sie sich äußern können. Wir assistieren beim Bücherschreiben etwa. Kürzlich veranstalteten wir in Stuttgart die erste Konferenz, wo Demenzbetroffene aktiv mitgestalteten.

In den Selbsthilfegruppen sollen Demenzbetroffene ihre Situation bewältigen. Was heißt „bewältigen“ in dem Kontext?

Ja, was? Mich beschäftigt gerade der Hype um Rudi Assauer. Sie wissen, der Schalke-Manager hat Demenz im mittleren Stadium. Das ZDF begleitete ihn ein Jahr, seine Biografie erscheint auch. Durch die Medien geistert nun der Satz: Es ist ein Kampf, den er nicht gewinnen kann. Auf der einen Seite haben Sie also eine Öffnung: Man spricht über Demenz und es gibt viel Sympathie. ‚Rudi, stark bleiben‘ steht auf Transparenten im Schalker Stadion. Dann kommt diese Sendung mit dem Motto: Den Kampf kann er nicht gewinnen. Der Arzt tritt auf und sagt: Ist die Krankheit da, beginnt eine Abwärtsspirale, und man kann nichts machen. Medizinisch kann man ihm insofern nicht widersprechen, als es auf absehbare Zeit keine Heilung geben wird. Aber menschlich gesehen ist so eine Aussage fatal.

Warum?

Dass etwas sein kann, dass etwas sich entwickeln kann, dass es auch schöne Momente und positive Erfahrungen geben kann, das wird diesen Leuten abgesprochen, und sie müssen sich diese Haltung zu ihrem Leben mühsam wieder erkämpfen. An dem Punkt sind wir gerade. Aber wenn das Umfeld mitspielt und die Betroffenen stützt, dann ist ein relativ gutes Leben auch mit Demenz möglich.

Kritisieren Sie also, dass den Leuten nicht nur die Zukunft abgesprochen wird, sondern auch die Gegenwart?

Ja. Christian Zimmermann, auch ein Autor mit Alzheimer, der in einer Selbsthilfegruppe in München aktiv ist, hat gesagt: Du musst beides überwinden – die Angst und die Hoffnung. Gemeint ist die Hoffnung auf Heilung. Das ist natürlich eine immense Anforderung.

Wird im Zuge des sich entwickelnden Selbstbewusstseins von Demenzbetroffenen deutlich, dass Demenz vor allem ein gesellschaftliches Problem ist?

Für uns ist klar: Demenz ist in erster Linie eine soziales Schicksal und eine soziale wie kulturelle Herausforderung. Deshalb ist es so fatal, wenn man bei Demenz nur dem medizinischen Diskurs folgt. Das verhindert, dass wir gucken, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Wir werden vermutlich immer mehr Menschen haben, die mit einer Demenz leben. Deshalb müssen wir unsere Ängste anschauen und fragen: Warum haben wir die, und was verhindern die?

Soll heißen: Dadurch, dass Demenzbetroffene nach außen gehen, brechen sie nicht nur ein Tabu, sondern sie helfen dem Rest der Gesellschaft, den Horizont zu erweitern?

In der Regel ist es ja heute noch so: Sobald jemand auf einen Dementen und dessen Pflegeperson trifft, sprechen die meisten nur mit der Pflegeperson. Das ändert sich, wenn die Betroffenen sich zu Wort melden. Dann müssen sie angesprochen werden. Dann wird nicht nur über sie, sondern auch mit ihnen geredet. Was ist deren Position? Wie können sie sie ausdrücken? Wie können wir sie aufnehmen? Diese Reflexivität müssen wir als Gesellschaft entwickeln.

Hinter dem gängigen Umgang mit Demenz steckt die Vorstellung, dass Vergessen immer absolut ist. Kann man Dinge auch halb vergessen?

Es ist natürlich selektiv, was vergessen, was erinnert wird. Das sieht man doch auch in der Gesellschaft. Unsere Gesellschaft ist hoch dement in mancherlei Hinsicht. Was da alles vergessen wird. Es gibt immer neue Produkte, die alten werden aussortiert. Bestimmte Informationen werden aufgenommen und gehypt, andere fallen durchs Raster. Da wird, ich weiß nicht wie viel, dauernd vergessen.

Warum ist Vergessen dann ein Stigma und Ignoranz nicht?

Ich kann das nicht beantworten. Kennen Sie eine Kultur, in der Ignoranz ein Stigma wäre? Ich finde Stigmata schrecklich, aber an der Stelle wäre ein Stigma vielleicht angemessen. Und das mit dem Erinnern und Vergessen hat natürlich etwas mit Leistung zu tun, mit bestimmten Entwürfen, wie wir zu sein haben, und auch mit Ideen, wie Erinnern und Vergessen funktioniert. Als ob unser Körper eine Maschine und unser Gehirn eine Festplatte wäre.

Sind also Demenzbetroffene, die Gesicht zeigen, das Gegenmodell zu dieser Vorstellung, dass wir alles immer besser kontrollieren können, was mit uns und in der Welt geschieht?

Der männliche Subjektentwurf, cogito ergo sum, ich denke, also bin ich, ich denke, also hab ich alles im Griff, ist ein Erbe der Aufklärung, ein Erbe des rationalistischen Weltbegreifens. Je mehr wir aber merken, dass wir so wenig im Griff haben, desto größer wird bei denen, die auf diese Kontrollfantasien bauen, die Angst. Die Person mit Demenz ist ein Gegenentwurf zum aufgeklärten, leistungsorientierten Menschen. Oder wie ein Kollege von mir sagte: Der Mensch mit Demenz ist ein dunkler Zwilling.