: Der große Schulkampf
Beim PISA-Vergleichstest der OECD schnitten nordrhein-westfälische Schüler schlecht ab. „Das dreigliedrige Schulsystem muss abgeschafft werden“, fordert deshalb die Lehrergewerkschaft GEW. Das Aktionsbündnis Schule widerspricht
PRO
Die Ergebnisse von PISA waren für das deutsche Schulsystem wenig schmeichelhaft. Die getesteten Fünfzehnjährigen bewegten sich bekanntlich leistungsmäßig nur im Mittelfeld. Aber der eigentliche PISA-Skandal: Das deutsche Schulsystem nimmt nur eine Spitzenposition ein, wenn es um Auslese und Benachteiligung geht. Kinder aus „bildungsarmen“ Familien haben im deutschen Bildungssystem wenig Chancen auf Ausgleich ihrer Benachteiligung. Im Gegenteil: Als Folge der frühen Selektion verschärft das System die Benachteiligung, statt sie abzubauen.
Deutschland – und auch NRW – hat die letzten 20 Jahre der Entwicklung des Bildungssystems verschlafen. Nicht nur die skandinavischen Länder, auch z.B. England, Hongkong und Polen haben integrierte Schulsysteme, die deutlich chancengerechter sind und qualitativ zu besseren Leistungen führen.
Der Übergang in die Wissensgesellschaft erfordert Bildung für alle auf hohem Niveau. Wir brauchen nicht nur Eliten, die Wissen produzieren, sondern zahllose Menschen, die mit Wissen umgehen können und intelligent produzieren, organisieren und verwalten. Inzwischen haben auch führende Unternehmen, die Handwerkerschaft und auch Teile des Beamtenbunds verstanden, dass unser Schulsystem die dafür notwendigen Leistungen nicht erbringt, auch weil es begabten Schülerinnen und Schülern aus benachteiligten Familien keine Chance gibt.
Tabus – finanzielle und strukturelle – bringen uns nicht weiter. Sie führen zu nichts als hektischem Stillstand. Wir brauchen den fairen Dialog über die Zukunft unserer Schulen: Ziel muss eine leistungsfähige demokratische Schule sein, in der herkunftsbedingte oder durch Behinderung verursachte Benachteiligungen abgebaut und nicht verstärkt werden und in der Arbeit und Lernen Spaß macht.
Die Verengung der Diskussion nur auf die Struktur der Sekundarstufe I soll Ablehnung produzieren. Strukturen haben jedoch – auch im Schulsytem – nur dienende Funktion. Es geht um viel mehr: Eine neue Philosophie des Lernens und Lehrens muss Einzug halten, fördern statt auslesen. Dazu muss sich die Pädagogik neu besinnen, der Unterricht muss umorientiert werden und eine neue Struktur muss entstehen, die Chancengleichheit eröffnet.
Eine Schule für alle ist eine Schule der Vielfalt und Kooperation, keine Einheitsschule. Die jungen Menschen werden nicht bereits im Grundschulalter nach drei wissenschaftlich unhaltbaren „Begabungstypen“ oder nach beruflicher Verwertungsaussicht sortiert. In der einen Schule für alle sind alle jungen Menschen willkommen. Niemand wird ausgesondert oder beschämt. Jeder einzelne junge Mensch wird in seiner Individualität wert geschätzt, individuell gefördert und herausgefordert, alle seine Potenziale zu entwickeln. Unterrichten im Gleichschritt und „Gleichmacherei auf mittlerem Niveau“ wie im traditionellen Schulwesen werden überwunden. LehrerInnen können sich im Wesentlichen auf ihre Beratungs- und Unterstützungsfunktion und auf die Lern- und Entwicklungsprozesse ihrer SchülerInnen konzentrieren.
Struktur und Philosophieveränderungen benötigen Zeit und Energie. Sie können nur mit den Betroffenen und nicht gegen sie erreicht werden. Deshalb schlägt die GEW konkrete Schritte vor: Weniger Sitzenbleiben, kein Abschulen ab der siebten Klasse, mehr Fördern und mehr Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer für neue Unterrichtsformen. Mehr Schulerfolg für alle SchülerInnen in NRW – aber auch keine Tabus bei der Schulstruktur und der notwendigen Finanzausstattung für Bildung.
Andreas Meyer-Lauber
CONTRA
Die Ergebnisse nationaler wie internationaler Leistungsstudien haben die Welt der Schulpolitik erschüttert. Die Befunde zu den Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler insgesamt waren ernüchternd; die hohe Kopplung von Sozialschichtzugehörigkeit und Bildungschancen schockierend. Vernünftige Konsequenzen wurden gezogen. Hierzu zählen u.a. Unterstützung der Migrantenkinder, Verbesserung der Lesekompetenz in allen Fächern, sinnvollere Nutzung der Vorschulzeit, regelmäßige Standardüberprüfungen etc.. Die Studien fordern zu schnellem und praxisorientiertem Handeln auf. Nur eines lässt sich aus den Studien nicht schlussfolgern: dass es einem Zusammenhang zwischen dem Schulsystem und den Leistungsbefunden der Schülerinnen und Schüler gibt.
Daher ist es unseriös und fahrlässig, die Studien zu bildungsideologischen Zwecken zu missbrauchen. Die verantwortlichen Wissenschaftler stellen fest, dass es „keinen Zusammenhang der Leistungen mit der Schulorganisation“ gibt. Sowohl in gegliederten wie auch in integrativen Systemen kommt es entscheidend darauf an, wie Schülerinnen und Schüler gefördert und unterstützt werden, wie früh von Seiten der Lehrkräfte Stärken und Schwächen diagnostiziert werden und wie wirksam die pädagogischen Rahmenbedingungen sind.
Warum dennoch der Ruf nach Einheitsschule? Es mag daran liegen, dass die Einheitsverfechter die Studien selbst nicht gelesen haben. Es mag daran liegen, dass Schulideologen glauben, zwei Halbwahrheiten ergäben schon eine Wahrheit. Letztlich werden nur Vorurteile über das gegliederte Schulsystem zusammengetragen. Bewusst verschweigt man, dass auch Länder mit gegliederten Schulstrukturen besser abschneiden als Deutschland; ebenso gibt es zahlreiche Länder mit integrativen Systemen, die schlechter abschneiden. Man verschweigt auch die guten PISA-Ergebnisse der Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg, die in den letzten Jahrzehnten statt unproduktiver Strukturdebatten auf Weiterentwicklung der Schulqualität gesetzt haben.
In NRW jedoch haben jahrzehntelange Diskussionen um Gesamtschulen, Stufenschulen, die KOOP-Schule, das Zwei-Säulen-Modell und zuletzt die Verbundschule davon abgehalten, die richtigen Fragen nach Verbesserungen in bestehenden System zu stellen und vernünftige Antworten zu geben. Ein Einheitsschulsystem oder ein rein integratives System oder ein Gemeinschaftsschulsystem für alle bringen nicht automatisch bessere Schülerleistungen hervor. Sie lösen nicht die sozialpolitischen Probleme. Sie schaffen allerdings die Schulwahlfreiheit für Eltern und Schülerinnen und Schüler ab und widersprechen damit den Vorgaben der Landesverfassung. Rückläufige Schülerzahlen sprechen im übrigen nicht für die Einebnung von Schulformen, sie eröffnen vielmehr die Chance, in kleineren und überschaubareren Schulen solide Bildungs- und Erziehungsarbeit zu leisten
Gegen Bestrebungen, die Vielgliedrigkeit aufzugeben, wendet sich das Aktionsbündnis Schule, in dem mittlerweile 16 Elternorganisationen und Lehrerverbände, Schul- und Hochschulinstitutionen organisiert sind. Entscheidend ist die individuelle Unterstützungskultur, sind effizientere Unterrichtsmethoden und die Umsetzung von Qualitätsstandards. Fragen um Erhalt oder Auflösung von Schulformen befördern nur Ängste zu Schulstandortfragen und tragen Unruhe in den Schulalltag hinein. Nicht die Zerschlagung bestehender Schulformen ist das Gebot der Stunde, sondern bessere pädagogische Rahmenbedingungen in dem bestehenden Schulsystem. Darauf haben unsere Kinder Anspruch!
Peter Silbernagel