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Archiv-Artikel

Wo, bitte, geht’s zur Gaskammer?

Die Erwartungen Jugendlicher an KZ erschweren es ihnen oft, den Ort zu verstehen. Ravensbrück geht neue Wege. Nicole, Anna und Fally besuchen nicht einfach das Frauenkonzentrationslager, sie versuchen es in Projekttagen selbst zu erkunden

VON CHRISTOPH VILLINGER

Der Prügelbock hatte Susanne* beeindruckt. Er steht im Zellenblock des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück. „Stell dir mal vor“, sagt sie, „du bist da angekettet und wirst gequält.“

Wenige Minuten später geht es Susanne ganz anders. Jetzt ist sie genervt. Sie beugt sich mit Stephanie, Nicole, Anna, Fally und Ina über einen Stapel Quellenmaterial, das im Seminarraum der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück liegt. Die 15-Jährigen sollen daraus eine Präsentation über die Ankunft der Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager erstellen. Wie verlief der Transport zu dem nördlich von Berlin bei Fürstenberg gelegenen Lager? Wie verlief die Beschlagnahme ihres Eigentums? Wie die Ausgabe der Häftlingskleidung und die Registrierung? Drei Projekttage lang werden sich die SchülerInnen einer neunten Klasse aus Eggesin bei Greifswald auf dem Gelände aufhalten.

Am Morgen des ersten Tages sollten die Jugendlichen das Lager selbst erkunden. Nur mit einem Lageplan ausgerüstet, schauen sich die SchülerInnen auf dem Gelände um. „Sie sollen ihre eigenen Fragen an den Ort entwickeln, um damit dann ihre Projekttage zu gestalten“, sagt Heide Schöllhorn vom Pädagogischen Dienst. Sie besetzt eine halbe der zwei existierenden Stellen. Unterstützt von Honorarkräften und Zivildienstleistenden betreuten sie im letzten Jahr 17.400 SchülerInnen.

Es dauert eine Weile, bis die Jugendlichen auftauen. In einer Mischung aus pubertärer Schüchternheit und der Angst, etwas Falsches zu sagen, schweigen sie zunächst. Doch dann reden alle auf einmal los. Viel zu viel ist ihnen „zu neu, zu frisch gestrichen, man sieht kein Blut mehr“. Eine hätte „gern mal gesehen, wie es 1945 aussah“. Sie vermissen die Gaskammer. Die sanitären Anlagen im Zellenbau irritieren. „Wenn man jemand halbtot schlägt, lässt man die doch nicht noch aufs Klo.“ Und sie wünschen den Wiederaufbau einer Baracke, um sich den Alltag der inhaftierten Frauen vorstellen zu können.

Im Augenblick ist das Gelände des Konzentrationslagers eine große leere Fläche, nur leichte Vertiefungen im steinigen Boden deuten die Standorte der Häftlingsbaracken an. Die sichtbaren Baracken am anderen Ende des Geländes stammen nicht aus der Nazi-Zeit, sondern von der Sowjetarmee. Die nutzte den größten Teil des Lagergeländes nach 1945 über Jahrzehnte als Kaserne.

Besonders der Widerspruch zwischen dem, was zu DDR-Zeiten vermittelt wurde, und dem, was heute gelehrt wird, beschäftigt die jungen BesucherInnen. So soll es nach neuesten Erkenntnissen den Erschießungsgang nie gegeben haben. Irritationen findet Monika Speck wichtig. „Die SchülerInnen sollen erkennen“, sagt die Geschichtslehrerin der Klasse, „dass Geschichte keine feste Wissenschaft ist, sondern Interpretationssache und immer wieder neue Erkenntnisse hervorbringt.“

Speck macht sich keine Sorgen um ihre Klasse. Mehrere Jugendliche haben das große A wie Anarcho auf ihre Rucksäcke gemalt, die Kids sind politisch. Mit ihrer anderen Neunten hingegen würde die Lehrerin nicht nach Ravensbrück fahren. Da herrschen ihr zu viele vorgefasste und diffuse rechtsradikale Meinungen vor. Zu groß ist ihre Angst, dass SchülerInnen zu dem Schluss kommen, das stimme alles nicht – nur weil sie ein Detail nicht verstehen wollen. Trotzdem ist Monika Speck wichtig, dass die Schüler lernen zu hinterfragen: „Ist das wirklich so? Seh’ ich das auch so? Oder bin ich da anderer Meinung?“ Als Ziel formuliert Speck, „kritikfähig zu werden in jeder Beziehung“. Nicht in Schwarz-Weiß-Schemata zu verfallen, sondern sich zu fragen: „Wie hätte ich mich verhalten? Wie hätte ich es ausgehalten? Mir meiner selbst nicht mehr sicher zu sein!“ Zu lernen, sich in eine historische Situation einzufühlen.

Einfühlen ist auch Heide Schöllhorn sehr wichtig, „dass die Schüler die Empathie erfahren, die sie anderen Menschen entgegen bringen sollen“. Deshalb stößt sie sich auch an der Benotung der Projektarbeiten und dem manchmal etwas scharfen Ton der LehrerInnen: „Immer das Thema im Auge behalten“ und „Kommt mal alle her und hört zu“.

Lakonisch kommentieren die SchülerInnen die Notengebung für ihre Präsentationen mit „besser als Klassenarbeiten“, beklagen eher „den Zeitstress“. Im Moment stoßen sie sich daran, dass eine Schulklasse aus Berlin mit zehn- bis zwölfjährigen Schülern ebenfalls in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in einem ehemaligen Wohnblock für Aufseherinnen untergebracht ist. „Sind die nicht viel zu jung dafür?“, fragen sie.

Deren Lehrer Heinz-Peter Frank von der Clara-Grunwald-Schule in Berlin-Kreuzberg sieht das nicht so. „Kinder reagieren viel emotionaler als größere Jugendliche“ und haben „eine größere Betroffenheit“, sagt er. Insbesondere weil die Namensgeberin ihrer Schule als Jüdin in Auschwitz ermordet wurde. Privat hat Frank sich lange vorbereitet, seinen SchülerInnen „aber nicht so viel erzählt, damit sie nicht so vorbelastet sind“. Drei Tage hat er sich mit ihnen Zeit genommen, um das Gesehene zu verarbeiten. Und ihnen anschaulich aufzuzeigen, wohin „Einstellungen und Bemerkungen führen können“. Den kleinen Schülern sind die Zahlen auf der Tafel vor der ehemaligen Kommandantur zu abstrakt: 132.000 Frauen, 20.000 Männer und 1.000 weibliche Jugendliche wurden hier zwischen 1939 und 1945 als Häftlinge registriert, „zehntausende ermordet“.

Heide Schöllhorn hat ebenfalls Zweifel, ob man mit einer vierten Klasse die Gedenkstätte besuchen sollte. „Viel hängt von der guten Vorbereitung und Begleitung ab.“ Am meisten können die Kinder mit Zeichnungen und modellierten Figuren von Überlebenden anfangen.

Dagegen sind die meist 18-Jährigen einer Gesamtschule aus Berlin-Charlottenburg, die für einen Nachmittag das Gelände besuchen, etwas enttäuscht. „Eigentlich wollten wir die Gaskammern sehen und lieber nach Auschwitz fahren“, meinen Mirkó und Ivan, die aus unterschiedlichen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens stammen. Auch Fatima winkt ab. „Da hab’ ich im Fernsehen schon viel mehr gesehen.“ Manuela immerhin ist irritiert, dass Frauen als Aufseherinnen mitgemacht haben. So etwas hätte sie nur von Männern erwartet.

Beim Rundgang durch das Gelände horchen sie auf, wenn der bei der Gedenkstätte als Honorarkraft angestellte knapp über 20-jährige Daniel Poensgen auf ihre Welt Bezug nimmt. Da wird der Siemens-Konzern, der hier einen großen Teil der Häftlinge ausbeutete, als Handy-Hersteller eingeführt. Und dass man wegen der „falschen Musik“ ins Jugend-KZ kommen konnte.

Das Bedürfnis nach greifbaren Schrecken steckt auch hinter dem Wunsch einiger der SchülerInnen aus Eggesin, eine der Häftlingsbaracken doch wieder aufzubauen. Nicht nur Heide Schöllhorn ist da skeptisch. Denn man könne heute nicht mehr authentisch erfahren, wie es wirklich war. Zum Glück.

* Die Namen zum Teil geändert.