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Archiv-Artikel

Hilflose Helfer

Prominente bekennen sich als manisch-depressiv und brechen damit ein Tabu. Über Depressionen wird geredet. Doch noch immer verlieren sich Partner, Angehörige und Freunde im Gedankenlabyrinth, wie sie helfen können. Was ist der richtige Weg, mit der Krankheit umzugehen? Zuhören, mitleiden, verzeihen, handeln oder gar den Rücken kehren?

von Borjana Zamani

Annas Vater hat sich das Leben genommen. Leise und knapp erzählt sie seine langjährige Leidensgeschichte. „Ich denke, wir haben alles getan“, sagt die 33-Jährige und schaut dabei in die Ferne. „Besonders meine Mutter. Und zum Schluss m– nichts.“ Annas Vater hatte manisch-depressive Stimmungen, seit sie sich erinnern kann. Schon als Kind diskutiert sie mit ihm in seinen depressiven Phasen. Das habe nie etwas gebracht, erklärt sie. Seine Befindlichkeitsstörungen waren im Freundeskreis bekannt. Doch niemand konnte ihm helfen. Und mit einem Therapeuten wollte er nicht reden.

Die Zahl der Menschen mit psychischen Störungen hat sich in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdoppelt. Seit 2001 ist die häufigste Ursache für eine Frühpension eine psychische Erkrankung. Allein mit der Pensionierung jedoch werden die Probleme nicht gelöst. Mit sich selbst zu kämpfen fällt auch in den eigenen vier Wänden schwer. Eine bipolare Störung gehöre unbedingt in psychiatrische Behandlung, sagt Marlene Reißle, die in Stuttgart selbst Beratung und Psychotherapie anbietet. Denn die manische Phase könne durch Allmachtsgefühle und Euphorie zu Selbstgefährdung führen.

Fachliche Hilfe bedeutet nicht Kapitulation

Gesunde Menschen verfügen über Mechanismen, so Reißle, innere Vorstellungen und äußere Gegebenheiten zu unterscheiden, und können danach ihr Verhalten ausrichten. Zum Beispiel Relevantes von nicht Relevantem zu unterscheiden und ihm Raum zu geben oder nicht. Wenn dieser Mechanismus nicht mehr funktioniert, erklärt Reißle, liege eine psychische Erkrankung und damit Behandlungsnotwendigkeit vor. Ein Berater kann zwar keine Wunder vollbringen, doch seine Hilfe sichert Lebensqualität. „Immer noch viele Menschen glauben, man müsse sich selbst helfen können. Fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen ist für sie eine Art Kapitulation“, erklärt Reißle.

Diese Einstellung ist für einen 35-jährigen Architekten nicht hilfreich. Er erzählt die Geschichte seiner Frau. Seine Worte schleppen sich langsam dahin. Sorgfältig ordnet er sie. Seit Jahren begleitet er die Leiden seiner Frau. Seit Jahren ist sie arbeitslos und deprimiert. Monatelang schaukelt sie das gemeinsame Kind vor Youtube und schweigt. Jetzt begreife er, dass seine dreijährige Tochter vermutlich deshalb verhaltensauffällig sei, sagt er trocken. Auch sie sage kein Wort und schlage abends mit dem Kopf gegen die Wand. Nachts, um zwölf, kommt er aus dem Büro nach Hause, badet das Kind und bringt es ins Bett.

Anfangs war er von ihrer Verrücktheit fasziniert

Mal beflügeln seine Frau spontane Ideen, mal fasst sie nirgends Fuß. „Früher war ich von ihrer Verrücktheit fasziniert. Ich fand sie abgefahren und dachte mir nur, die ist ja cool.“ Eine Arbeit für sie zu finden war nie möglich. Er arbeitete hart, und sie ging pausenlos shoppen. „Dann wollte sie ein Auto haben und ist den ganzen Tag damit herumgefahren“, erzählt er. Auf seinen Vorschlag, als Pizzalieferantin zu arbeiten, reagierte sie wütend und erklärte ihn für verrückt. Er hört auf, Vorschläge zu machen, sonst hätte es nur Streit gegeben. Dann stellte er fest, dass es besser lief, wenn sie abends zusammen tranken. „Dann war sie besser drauf und ich natürlich auch.“ Aber das war keine Lösung.

Mit der Schwangerschaft seiner Frau hörten die Alkoholabende auf, die gute Laune blieb. Bis zur Geburt des gemeinsamen Kindes. „Ich lasse sie jetzt wieder einkaufen, das macht sie ruhig. Ich wüsste sonst nicht, warum sie das Zeug braucht“, sagt der junge Vater. Heimlich hofft er, allein mit dem Kind eine Reise zu machen, um ein wenig Sorglosigkeit ins Leben zu bringen. Doch seine Frau würde das nie erlauben. Es gibt kein Entrinnen.

Es ist nicht einfach, sich eine psychische Krankheit einzugestehen. Weder für die Erkrankten noch für deren Angehörige. Marlene Reißle warnt: „Kinder und Partner von psychisch kranken Menschen sind gefährdet.“ Denn wer lange mit einem Menschen zusammenlebt, der schwere psychische Störungen hat, kann selbst seelische Probleme entwickeln. Vor allem, wenn man unter dem problematischen Verhalten des Kranken leidet, der aber nicht einsichtig ist. Spätestens dann, wenn sich jemand selbst gefährden könnte, sollten Angehörige professionelle Hilfe suchen. Ebenso, wenn Probleme länger anhalten. Wenn sich Verhalten und Stimmung des Betroffenen so verändern, dass man sich die nicht erklären kann oder die in Bezug zu möglichen Ursachen unverhältnismäßig erscheinen, rät Reißle. Kommen Gefühle von Angst, Wut oder Traurigkeit bei einem selbst auf, sei dies ein Alarmzeichen. Wenn das Gefühl entsteht, nicht mehr helfen zu können, ist der Punkt gekommen, selbst Beratung zu suchen. „Für die eigene psychische Gesundheit ist es wichtig“, sagt Reißle, „mit fachkundiger Beratung herauszufinden, wo die Möglichkeiten, aber auch die eigenen Grenzen sind.“

Ehefrau und Tochter konnten dem Vater nicht helfen

Trotz Beratung können Anna und ihre Mutter dem Vater nicht helfen, keiner kann ihn zu einer Therapie überreden. Mit 18 verlässt Anna das Elternhaus. Ihre Mutter wechselt die Stadt. Es ist wie eine Flucht. Zu solchen Kontaktabbrüchen komme es oft, bestätigt Reißle. Angehörige geben den Kampf auf, um sich selbst zu schützen. „Wir konnten nichts mehr machen“, sagt Anna, „das ist die Realität.“ Jetzt geht es ihr gut, sie hofft, dass es auch so bleibt. Mit ihrer Mutter redet sie nicht mehr über den kranken Vater: „Wir haben uns alles schon tausend Mal gesagt.“

Annas Vater bleibt allein und geht zu einem Psychiater. „Dann bekam er passende Medikamente, und zehn Jahre war alles okay“, erinnert sich Anna. Mit der Arbeitslosigkeit des Vaters ging es wieder bergab. Es war klar, dass seine Medikamente umgestellt werden mussten. Die Untersuchung schob er immer wieder hinaus. Sie war für den Tag nach seinem Tod geplant.

Regelmäßige Untersuchungen und richtige Medikamente können die bipolare Störung nicht heilen, aber sie gut in Zaum halten. Dadurch sei ein erfülltes, zufriedenes Leben möglich, und das ist doch jedermanns Ziel. Jede bipolare Störung hat ihre eigene Vorgeschichte. Jede Lösung sieht anders aus. Ratgeberliteratur und Selbsthilfegruppe mögen trösten. Erfahrene und Experten sind sich aber einig: Manisch-Depressive brauchen fachliche Hilfe. Auch der beschwerlichste Weg fängt mit dem ersten Schritt an.