: Das Montagsinterview„Unser Leben ist ein sehr glückliches“
Vom Schönen erzählen: Judith Hennemann über den Gewinn, den ihre geistig behinderte Tochter bedeutetNORM ODER VIELFALT Judith Hennemann, Mutter einer Tochter mit Down-Syndrom, schreibt einen Ratgeber für Eltern geistig behinderter Kinder. Probleme, sagt sie, kommen nicht vom Kind – sondern von außen. Ein Gespräch über Leben jenseits der Norm
Sozialpädagogin und Dozentin u. a. am Klinikum Bremen-Mitte.
■ Stipendiatin des Forschungsnetzes Mariaberg; schreibt derzeit einen Ratgeber über die emotionalen Bedürfnisse der Eltern geistig behinderter Kinder.
■ Mutter von drei Kindern, von den das älteste, Rahel, das Down-Syndrom hat.
INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF
taz: Wussten Sie schon während der Schwangerschaft, dass Ihre Tochter Rahel Down-Syndrom haben wird?
Judith Hennemann: Nein. Ich war damals 25 Jahre alt. Wir haben uns aber vorher Gedanken darüber gemacht und beide gleich gesagt: Wir nehmen das, was kommt. Im Nachhinein denke ich, dass uns das eine große Sicherheit gegeben hat, als es dann auch so gekommen ist.
Gab es damals schon in der Selbstverständlichkeit pränatale Diagnostik?
Mittlerweile wird die Nackenfalte des Kindes ja ungefragt gemessen, aber damals war es noch nicht so. Die Ärztin hat sich zigmal entschuldigt, dass sie nichts gemerkt hat – und ich fragte mich immer: Warum entschuldigt sie sich so, das war uns nicht wichtig, danach zu suchen. Aber es sagt viel darüber aus, was für ein Druck auf den Ärzten lastet.
Machen Sie die entsprechenden Untersuchungen – die unter anderem das Down-Syndrom feststellen soll – in Ihrer jetzigen Schwangerschaft?
Wir haben uns bei den mittlerweile drei nachfolgenden Schwangerschaften von Anfang an dagegen entschieden. Ich bin da ganz offensiv da rangegangen: Ich habe gesagt: In unserer Familie gibt es ein Kind mit Behinderung, aber wir wollen trotzdem keine Untersuchung. Bei der zweiten Schwangerschaft haben wir allerdings die Nackenfalte messen lassen.
Warum?
Rahel war gerade ein Jahr alt, als ich wieder schwanger wurde. Ich habe das Ganze fast umgedreht: Ich habe mir fast noch einmal ein Kind mit Down-Syndrom gewünscht. Im Nachhinein kann ich nur sagen: Das war wahrscheinlich eine Lösungsmöglichkeit für mich. Ich habe nicht getrauert, sondern gesagt: Das ist etwas ganz Besonderes, etwas ganz Tolles. Aber auch, um bei einem Herzfehler eine Klinik auszuwählen, wo alle medizinischen Möglichkeiten vorhanden sind. Während ich bei der dritten und vierten Schwangerschaft schon auch Ängste hatte und mich fragte: Schaffe ich das noch einmal mit einem behinderten Kind?
War das erste Jahr mit Rahel durchweg gut oder haben Sie da auch Höhen und Tiefen erlebt?
Es gab Tiefen – aber eigentlich nicht mit dem Kind. Die Probleme kommen meist von außen. Wenn man sich fragt: Wer leidet hier denn eigentlich, dann nicht sie – wenn, dann ich. Meiner Tochter geht es supergut. Sie war von Anfang an fit und gesund und fröhlich. Sie leidet nicht unter ihrem Down-Syndrom. Aber wenn dann zum Beispiel der Schwerbehindertenausweis kommt, wo man es schwarz auf weiß hat, das hat mich schon fix und fertig gemacht.
Wie waren die Reaktionen von Familie und Freunden?
Man fällt von seiner eigenen Schockreaktion oft ganz schnell in die Rolle des Tröstenden. Alle Welt will mit aufgefangen werden, da ist viel Hilflosigkeit, viel Nicht-Wahrhaben-Wollen. Es hat uns auch kaum einer gratuliert und das macht mich noch immer betroffen.
Im Exposé zu Ihrem Buch schreiben Sie auch von der Trauerarbeit, die die Eltern leisten müssten. Worin besteht die?
Nachdem ich jetzt eine Menge Interviews mit Eltern von geistig behinderten Kindern geführt habe, würde ich eher von Traurigkeit sprechen. Da geht ein Kind, das man sich vorgestellt hat oder das man hatte. Die Traurigkeit ist da – die habe auch ich – aber man kann lernen, sie unabhängig von dem Kind zu sehen. Und das, was es ist, zu akzeptieren, wenn man mit der Trauer ein Stück weit abgeschlossen hat.
Ist das die Traurigkeit einer nicht erfüllten Erwartung?
Ich glaube, dass Eltern in unserer Gesellschaft bereits im Vorfeld immer höhere Erwartungen haben. Bevor man überhaupt schwanger ist, hat man schon ein Bild. Man will so früh wie möglich wissen, ob Junge oder Mädchen, man sieht es bereits in einer bestimmten Schulform und sie bekommen den Namen schon bevor sie geboren sind. Wenn dann ein Kind mit Behinderung geboren wird, löst das natürlich Schock und Trauer aus.
Wird die pränatale Diagnostik so stark genutzt, weil die Eltern eben nicht von ihrer Erwartungshaltung abgehen wollen?
Ich glaube, dass viele Leute die Pränataldiagnostik wie ein Fernseher in den Bauch hinein nutzen, die wenigsten setzen sich damit auseinander, was sie bedeutet: Was tut man, wenn eine Behinderung zu erkennen ist? Wenn man den Menschen näher bringen könnte, dass es eine medizinische Notwendigkeit ist, die viel Leid ersparen kann – nicht muss – wäre viel gewonnen.
Eine Notwendigkeit?
Ich nehme das, was kommt, aber das ist meine ganz persönliche Entscheidung. Ich habe auch Familien kennengelernt, die sagen: Wir würden gern noch ein Kind haben, aber wir wollen pränatal abklären, ob es die gleiche Behinderung hat wie unser erstes Kind, weil wir das nicht mehr tragen können. Ich denke, dass es ein wichtiges Recht von Eltern ist, sich so entscheiden zu können. Es gibt unvorstellbares Leid, das Eltern beispielsweise durchmachen müssen, wenn sie wissen, dass sie beide Träger einer Erbkrankheit sind und das Kind in den ersten sechzehn Lebensjahren auf grausame Art versterben wird. Aber nicht jede Frau muss diese Diagnostik machen.
90 Prozent der Eltern, die wissen, dass ihr Kind Down-Syndrom haben wird, entscheiden sich für eine Abtreibung. Können Sie auch das mit so viel Gelassenheit hören?
Natürlich nicht. Viele glauben, dass das Leben mit Behinderung schrecklich und nicht lebenswert sei. Man hat mir als Dozentin mal gesagt, ich solle nicht so positiv darüber reden. Wenn ich aus dem Raum ginge, wollten alle ein Kind mit Down-Syndrom haben. Erst dachte ich: So soll es auch nicht klingen. Aber auf der anderen Seite gibt es so viel Leute, die negativ darüber reden, dass ich denke: Hey, Menschen mit Down-Syndrom sind Teil unserer Gesellschaft. Unser Leben mit Rahel ist ein sehr glückliches – das ist mir wichtig zu sagen. Das hat auch damit etwas zu tun, dass man durch sie ganz andere Blickweisen bekommt, die man nutzen soll. Selbst beruflich stehe ich nur deshalb dort, wo ich bin, weil es sie gibt.
Wie viel gesellschaftliche Unterstützung finden Sie als Eltern eines solchen Kindes?
Man muss schon eine Kämpfernatur sein. Ich bin manchmal ein bisschen verzweifelt, wenn ich an allein erziehende Mütter denke, die irgendwann einfach nicht mehr die Kraft dazu haben oder Eltern mit Migrationshintergrund, die nicht verstehen, wie das alles funktioniert.
Geht es um mehr Mittel bei der Förderung – zum Beispiel in der Schule?
Es fängt viel früher an: Beim gesellschaftlichen Bild dieser Menschen. Wir müssen akzeptieren, dass das Leben vielseitig ist und nicht jeder Abitur machen kann. Früher war Hauptschule ein normaler Schulabschluss – heute sind das nahezu Sonderschüler. Und wie soll da ein Mensch mit Behinderung hineinpassen? Das ist ja das Verrückte: Es gibt ja nicht weniger, sondern mehr behinderte Menschen. Es werden Kinder in der 23. Schwangerschaftswoche geboren, für die alles getan wird, egal mit welchen Folgen, und auf der anderen Seite wird bei Kindern mit Down-Syndrom gefragt: Wie konnte denn das passieren?
Viele Eltern behinderter Kinder fragen sich, was aus ihrem Kind wird, wenn sie nicht mehr für sie sorgen können.
Das ist noch weit weg. Aber ich denke, dass es wichtig ist, rechtzeitig loszulassen. Rahel hat da sehr konkrete Vorstellungen.
Welche?
Sie will mit ihrer besten Freundin nach Mallorca ziehen, deren Großeltern kommen mit – die Oma kocht und der Opa geht arbeiten – und Rahel möchte gerne Kinderärztin werden.