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Archiv-Artikel

Wenn das der Führer wüsste!

Was sähen Altnazis im Deutschland von heute? Untergang und Zersetzung

VON JAN FEDDERSEN

Es muss sich um das mächtigste Phantasma der Nazikader gehandelt haben – dass Menschen ungeordnet miteinander tanzen, dass sie sich aneinander freuen, dass sie schwitzen, riechen und sich überhaupt körperlich nah sind. Ihre Becken kreisen lassen, verführend, ja, so hätte man wohl gedacht, unnatürlich parfümiert. Das machen doch nur Hottentotten! Und von denen kam Anfang der Fuffziger auch das, was sie wohl Negermusik genannt hätten. Sexuell gefährdend, lustbetont und völlig zu Recht auch so gegeißelt damals, als die Bundesrepublik gerade begann. Schlimmer als Swing sogar, und der war zersetzend genug. Mehr noch: Es blieb ja keine jugendliche Angelegenheit – die Diskothek als solche, Balzplatz im Halbverborgenen, krass der Karneval der Kulturen, der Schlagermove oder die Love Parade, die mögen doch alle recht gern, und wer sie nur langweilig findet, geht eben nicht hin. Alles amorph unter einem Regenbogen, keine Zucht und Ordnung. Menschen in Reih und Glied wie beim Exerzieren mit Befehl und Gehorsam – lächerlich. Wenn das der Führer wüsste: Er fände es undeutsch.

Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, flink wie ein Windhund. Das sollte der deutsche Mann sein, der tapfer kämpft, auf dass er den Tod nicht fürchte. Der keine Gefühle hat und wenn, dann nur sachliche. Ein deutscher Mann, der schmust: weibisch. Man sieht ja auf Fotografien, wie Nazigrößen im Kreise ihrer Familien sitzen, zu Weihnachten gern. Aber sie sehen wie Zombies aus, unbeteiligt, hartgesotten, leer. Der Mann von heute wäre ihnen ein Gräuel: Väter, die ihre Kinder nehmen, wie es früher nur Mütter durften – sorgend, hütend, berührend, hautnah. Der ist vielleicht gelegentlich streng, gewiss auch hartnäckig, und hart auch nicht zu sich selbst. Ein Waschlappen, ein Weichei, keiner, der seinen Mann steht. Ein deutscher Junge weint nicht? Doch. Er kann. Was, quasi menschlich gesehen, einer Denaturierung der deutschen Eiche ähnelt – dieser Mann als bergendes Wesen. Der sich dauernd zusammenreißt und mählich dem Bild entspricht, was man einst von der jüdischen Mamme hatte: empfindsam. Wenn das der Führer wüsste: Er fände das abartig.

Überhaupt das Elterliche. Mann und Frau mögen ja so ihre Flausen gepflegt haben – dass sie ihre Kinder aus Liebe haben oder sie haben möchten. Unfug. Kinder sind des Führers Nachwuchs und entsprechend hart zu erziehen. Produkte arischer Zucht quasi, kein Nachwuchs um seiner selbst willen. Die Wissenschaft macht’s möglich, dass sogar zwei Frauen Eltern sein können, gewiss auch bald zwei Männer. Wie sich mehr und mehr bekannt macht, schaffen es zwei Frauen glänzend, sich um ihr Kind zu sorgen, es zu hüten. Ein Spruch wie „Kinder mit’m Willen, krieg’n was auf die Brill’n“ wäre unmöglich. Familien nach Art der Herrenrasse mit der Mutter als Gebärschale und dem Vater als Samenspender, ihre auf Gehorsam gedrillten Kinder, sie sind ausgestorben. Kinder tanzen ihren Eltern auf der Nase herum. Wenn das der Führer wüsste: Er fände das widernatürlich.

Männer sind auch nicht mehr das, was sie sein mussten. Wer will, kann schwul sein. Und nicht einmal nur im Versteckten. „Bevölkerungspolitische Blindgänger“ (Heinrich Himmler)? Wenn schon. Die schwer erkämpfte Ermöglichungsrepublik, wenn man das Nachkriegsdeutschland mal so nennen darf, das Land der Nachnazizeit, dieses Land erträgt Männer, die sich unsoldatisch, nicht nur als Kameraden, berühren. Wenn das der Führer wüsste: Er würde es widernatürlich finden.

Hat ja alles nix genützt, der ganze Rassenwahn, das Töten, Morden, Auslöschen. Wie in schönster Blüte mischen sich in Deutschland die Hautfarben, fast so wie in Amerika. Es hat ja lange gedauert. Ein anständiger Deutscher heiratet ein deutsches Mädel, blond, treu und eine gute Gefährtin. Das ist vorbei und weckt höchstens noch Irritationen. Was sie scheitern lässt, hat nichts mit dem Druck wegen der Gräuelpropaganda von Rassenschande und Verseuchung arischen Bluts zu tun. Und schaut man sich in den Metropolen um, in den U-Bahnen, in den neodeutschen Vierteln mit vielen, viel zu vielen und Jahwe wie Allah sei Dank eingewanderten Menschen: Man könnte sich wie einem Schtetl wähnen, prall, laut, nervös, urban, vital und garantiert weizenblondarm. Schtetl? Nazikadern war alles, was undeutsch aussah, ein Albtraum, amorph, unplanierbar, unübersichtlich, dschungelhaft. Ein Horror als solcher vor der schmutzigen, fleischlustigen Hölle, die überall ist, wo sich Leben Zucht und Auslese widersetzt. Germania als Wille und Vorstellung lässt längst alle kalt. Wenn das der Führer wüsste: Er fände es abstoßend.

Wie auch die Jugend. Soft ist sie, meist ziemlich cool, unempfänglich für Kasernenhofschulunterricht. Lustlos, wenn man sie zu etwas zwingen will. Klasse. So gewaltarm wie in Deutschland war’s nie. Schon Kinder sind das Verhandeln gewohnt, weil man ihnen nichts mehr befehlen kann – es sei denn, man verfügt über gute Argumente. Wer es pädagogisch dennoch naziartig macht, hat schon verloren. Die doitsche, pardon: deutsche Jugend – nix da mit Lebensborn. Gut so. Stattdessen genießen sie ihre Körper, wenn sie es denn wollen. Piercen und frisieren … manchmal offensichtlich stundenlang. Mit mediterran anmutenden Schmiermitteln, Zuckerlösung und Haarspray. Der Körper nicht mehr als Maschine – eher ein Fluss in Bewegung. Schiefen Scheitel links? Nur wenn’s die Mode erlaubt. Der deutsche Teenie: dank amerikanischer Re-Education ein Erfolgsmodell. Wenn das der Führer wüsste: Er würde das krank finden.

Der Todeswahn deutscher Provenienz? Triumphal dementiert. Das Leben war, ist stärker. Seit fast 60 Jahren.