: Der Junge, der Adolf Hitler nicht einen Tag überleben sollte
VON PHILIPP GESSLER
„Zu jeder Zeit ist das Mutterwerden verglichen worden mit den höchsten Tugenden des Mannes, der in den Tagen schwerster Not mit Einsatz des eigenen Lebens Volk und Heimat verteidigt.“ (*)
Die Bilder hat Heiko Dahle noch im Kopf, nicht mehr die Einzelheiten: In seiner Erinnerung sieht er seine Mutter mit seinen drei Brüdern im Halbkreis auf dem Rasen sitzen. Es ist ein kleiner Park in Pahlhude bei Pahlen in Schleswig-Holstein, zwischen Heide und Rendsburg gelegen. Die Mutter zückt eine Pistole. Sie feuert zuerst mehrmals auf den Ältesten, Wulf, er ist acht Jahre alt. Dann auf den sechsjährigen Jochen. Als die Mutter auf Heiko zielt, fleht der Fünfjährige sie an, ihn nicht zu töten. Die Mutter stoppt das Morden – aus Mitleid? Oder war es nur eine Ladehemmung, fragt sich Dahle heute. Wulf und Jochen sind noch nicht tot, als sie gehen, das weiß Dahle noch. Danach verschwimmt alles. Die Mutter gibt Heiko und seinem jüngsten Bruder Volker, drei Jahre alt, Morphium. Auch sie nimmt es. Die Dosis für Volker ist tödlich, Heikos Magen wird ausgepumpt, er überlebt. Ebenso wie seine Mutter.
„Das neue Deutschland schätzt die Mutter, zumal die kinderreiche, nach den Worten des Führers als erste Trägerin des Staates.“
Dahle sitzt in der kleinen Küche seines Hauses in Eutin, einem schmucken Städtchen mitten in den sanften Hügeln der Holsteinischen Schweiz. Braun gebrannt ist er, wach, drahtig, fast glühend lebendig wirkt der 65-jährige Pensionär. Bis Februar lehrte er noch Sozialpädagogen an der Fachhochschule Bremen das juristische Einmaleins. Nach langem Überlegen erzählt er nun die Geschichte seiner Mutter. Flüssig ist sein Bericht, jedes Wort scheint in seinem Kopf mit den weißen lockigen Haaren hundertmal gekreist zu sein, die Geschichte seiner geliebten Mörderin, die Anfang Mai 1945 ihn und seine drei Brüder umbringen wollte. Aus Angst vor dem Feind, dessen Kanonen schon zu hören waren. Aus Furcht vor der Zukunft nach dem Ende ihres „Dritten Reiches“, an dem sie fanatisch hing. Das waren die Gründe. Waren das alle Gründe?
„Auf uns Frauen wartet als unaufschiebbar dringlichste die eine uralte und ewig neue Pflicht: der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken.“
Warum? Diese Frage bohrt in Dahle, seit er das Sterben seiner Brüder, getötet durch die Hand seiner Mutter, miterleben musste. Warum? Wie kommt eine 33-jährige Frau, ausgebildet zur Krankenschwester, dazu, ihre Kinder zu töten, die sie nach der Erinnerung Dahles „abgöttisch geliebt hat“. Die Freundinnen und Freunde ihrer Mutter schildern sie als sehr lebendig, humorvoll und kommunikativ. Nur ein schwermütiger Zug sei schon immer um sie gewesen.
Dahle holt ein rotes Fotoalbum aus einem kleinen Bücherschrank, auf den Schwarz-Weiß-Fotos sieht man immer wieder eine strahlende, lachende, ihre Kinder herzende junge Frau. Oft trägt seine Mutter eher ländliche Kleidung, Miederröcke und flache Schuhe. Geprägt wurde sie, erzählt Dahle, wie der Vater von der Jugendbewegung – vielleicht erkläre dies einiges, meint Dahle gleich am Anfang des Gesprächs: die Affinität zum Nationalsozialismus, der viele Ideale der bündischen Jugend aufnahm, der Drang nach dem Natürlichen, Gesunden, dem Völkischen, dem Einfachen.
War der dreifache Mord an ihren Kindern die Frucht eines „ideologischen Idealismus“, dem seine Mutter offenbar anhing. Ließ sie sich zu sehr von dieser „wagnerianischen Untergangsstimmung“, die die NS-Propaganda am Ende noch schürte, bewegen? War sie sicher, dass Gnade vom Feind nicht zu erwarten sei? „Hat sie so geliebt, dass sie glaubte, sie wäre es ihren Söhnen schuldig, sie umzubringen?“, fragt Dahle. Um sie vor Schlimmeren zu bewahren? An die Stimmung vor der Tat erinnert sich Dahle noch: Sie sei süß, melancholisch gewesen.
„Schon in ihrem ersten Kinde aber sehe die rechte deutsche Mutter nicht nur das Wesen, das ihrem Herzen am teuersten ist und für das sie zu jedem Opfer bereit ist, sie erblicke in ihm auch die verbindende Brücke zwischen der Vergangenheit und Zukunft ihrer Familie, ihrer Sippe, ihres Volkes.“
Dahles Vater kommt am Abend nach der Bluttat aus Hamburg, wo er eine fliegertechnische Vorschule zur Ausbildung des Bodenpersonals der Luftwaffe führt. Bis auf seine Frau und ihren Sohn Heiko „traf er nur noch Tote an“, erzählt Dahle. Sie sagt zu ihrem Mann: „Du hast doch ’ne Pistole – erschieß mich.“ Dahle hat erst 1983 mit seinem Vater über die Morde gesprochen. Sein Vater durfte seine Frau nie fragen, was genau passiert war, das war tabu. Der Vater holt sich eine Schubkarre und geht zum Park in Pahlhude. Er lädt die Leichen von Jochen und Wulf darauf und fährt sie zum Friedhof von Pahlen. Er hebt zwei Gräber aus. Als alter Mann erzählt er dem Sohn, er habe sich überlegt, sich gleich dort mit seiner Pistole zu erschießen. Er habe es um Heiko willen nicht getan. Die Gräber der Brüder haben keinen Grabstein.
„Auch wenn das Kind auf die Maßnahmen der Mutter mit eigensinnigem Geschrei antwortet, ja gerade dann läßt sie sich nicht irre machen.“
Gab es eine Verabredung zwischen seiner Mutter und ihrem Vater, sich am Kriegsende umzubringen – und die Kinder mitzunehmen, fragt sich Dahle. Hat es eine Rolle gespielt, dass Papa kurz zuvor fremdgegangen war? Der Vater zeigt seine Frau nicht an, er bleibt gar bei ihr. Er hätte sie verlassen müssen, sagt Dahle heute. „Wie konnte er mit einer Mörderin leben?“, fragt er, „mein armer Vater.“ Aber er bleibt bei ihr. Nur der engste Kreis der Verwandtschaft erfährt, was wirklich passiert ist. Jeder, auch Heiko, muss die Lüge verbreiten, seine Brüder seien bei einem Bombardement umgekommen. Niemand fragt nach, die Version passt zu den „Wirren des Kriegsendes“, meint Dahle.
Kurz nach der Bluttat hat der kleine Heiko Todesangst vor seiner Mutter, erinnert sich Dahle. Doch danach wächst auch wieder Liebe zu ihr. Er kann nicht erklären, warum. Aber die Geschichte ist nach 1945 immer da, unausgesprochen, wie ein schwarzer, stummer Gast der Familie. Dahle erinnert sich, dass er nach dem Krieg eines Tages mit einer beim Spielen zerrissenen Hose nach Hause kommt. Er sinkt auf die Knie, als er seine Mutter sieht, fleht sie an, ihm nichts zu tun. „Um Gottes willen!“, sagt sie, „bin ich denn so streng zu dir gewesen?“ Einmal lobt sie ihn, weil er Fremden gegenüber erklärt, seine Brüder seien bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Als er kurz im Frühjahr 1946 von den englischen Besatzern Milchsuppe mit Rosinen bekommt und nach Hause bringt, sagt seine Mutter nur: „Wenn ich das gewusst hätte.“ Nur diese drei Mal klang das Geschehen vom Mai 1945 zwischen Dahle und seiner Mutter noch einmal an. „Das Lügen war schon eingeübt“, sagt er heute.
„Kein Ereignis im Leben der Frau entreißt sie aber auch so sehr ihrem Einzelschicksal und ordnet sie ein in das große Geschehen des Völkerlebens wie dieser Gang an die Front der Mütter unseres Volkes, die den Strom des Lebens, Blut und Erbe unzähliger Ahnen, die Güter des Volkstums und der Heimat, die Schätze der Sprache, Sitte und Kultur weitertragen und auferstehen lassen in einem neuen Geschlecht.“
Im Frühling 1955 begeht Dahles Mutter Selbstmord. Sie bekommt immer im Frühling schwere Depressionen. In der Küche dreht sie das Gas auf. Auch der Suizid wird natürlich in der Öffentlichkeit verschwiegen, erzählt Dahle. Der damals 15-jährige Heiko trauert um seine Mutter – warum, das kann der 65-Jährige nicht erklären. War es eine „Schicksalsgemeinschaft in einer Lebenslüge“, überlegt er.
Seine Eltern haben 1947 noch einmal ein Kind bekommen, wieder einen Sohn. Es gibt ein Foto von ihm im roten Fotoalbum. Ein Knabe liest seinen Eltern in einem 50er-Jahre-Wohnzimmer etwas vor. Dahles Mutter ist fast völlig schwarz gekleidet. „Das Projekt“, ein neues Kind, „konnte nicht gelingen“, sagt Dahle heute. Sein Bruder lebt in den USA, weit weg vom blutigen Deutschland. Er brauchte Jahre, ehe er mit psychotherapeutischer Hilfe das Trauma verarbeitete. Mit 17 erfuhr er davon, Heiko erzählte ihm alles. Zunächst schien er nicht zu begreifen. Eine Freundin der Mutter erklärte ihm ihren Selbstmord, ganz trocken, so: „Das ist ganz klar, die wollte bei ihren Kindern sein.“
„Die Mutter aber ist es, in deren Händen die glücklichste Lösung aller ersten kleinen und großen Schwierigkeiten liegt. Sie hat ihr Kind unterm Herzen getragen, sie hat es geboren und genährt, sie muß es mit sanfter, aber fester Hand hineinführen ins Leben.“
Dahle selbst hat die Geschichte, deren einziger Augenzeuge er war, erst nach und nach in seiner Familie erzählt. Seine sieben erwachsenen Kinder kennen sie. „Sie sind ja davon betroffen – es ist immer besser, wenn etwas bewusst ist als unbewusst“, sagt er in seiner Küche. Es gebe Anhaltspunkte, dass seine Kinder diese Last der Erinnerung dennoch weitertrügen, sagt Dahle, aber wie, das will er nicht sagen. „Das bedrückt mich am meisten an dem ganzen Geschehen.“
In ihm selbst sei weder Hass noch Wut über seine Mutter, meint Dahle. Dafür „Trauer reichlich“ über seine Brüder. Ihm sei, als passten sie noch heute stets auf ihn auf. Aber auch der Schmerz sei immer da, er habe „einen seelischen Schaden durchs Leben geschleppt“, fühle sich „irgendwie behindert“. Er habe keine psychosomatischen Störungen davongetragen, sagt Dahle. Alkohol habe ihm den Schmerz nie betäubt. Er fühle sich als „ein Opfer des Krieges. Keiner hasst den Krieg so wie ich“.
Trotz allem habe er ein lebensfrohes Naturell. „Ich bin ein Aufgesparter, Überlebender“, meint der Mann, der seine Mutter überlebte. Vielleicht sei er wie viele seiner Postkriegsgeneration so in der 68er-Bewegung aufgegangen, weil er in ihr Nähe, Vertrauen und Gemeinschaft gesucht habe, die in seiner Familie fehlte, überlegt er. Vielleicht sei eine Ehe an seiner Geschichte gescheitert. Vielleicht. Nur eines weiß er, etwas darüber zu lesen oder zu sehen, wie Magda Goebbels im Führerbunker ihre Kinder ermordete, das erträgt er nicht. Da blättere er weiter.
Dahle will noch das Foto seiner Mutter mit ihren vier Kindern mitgeben. Der tote Wulf mit einem Ball, der tote Jochen mit einem Segelboot aus Holz, der tote Volker, geschützt in den Händen der lächelnden Mutter. Dahle kriegt das Bild nicht aus dem Fotoalbum. Es klebt zu fest.
(*) Alle Kursivzitate aus: Johanna Haarer, „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. München, Berlin 1938, Auflage 111.–130. Tausend