: Von Tigern und Mäusen
von ANDREAS ZUMACH
„Die Mäuse sind jetzt zwar unter Kontrolle, aber fünf Tiger laufen noch frei herum.“ Mit diesen Worten kommentierte der Botschafter Mexikos bei der Gründungskonferenz der „United Nations Organisation“ (UNO) in San Francisco die Artikel 23 und 27 der UNO-Charta, die von den 50 Teilnehmerstaaten der Konferenz am 25. Juni 1945 nach zweimonatigen Verhandlungen und nur sieben Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs einstimmig verabschiedet wurde. Die Artikel 23 und 27 garantieren den vier Siegermächten dieses Krieges – den USA, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – sowie China als größtem Land der „Dritten Welt“ zwei große Privilegien gegenüber den anderen (inzwischen 186) Mitgliedsstaaten der UNO: einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO sowie das Vetorecht. Die Durchsetzung dieser Privilegien hatten US-Präsident Franklin Delano Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill bereits vereinbart, als sie am 14. August 1941 auf dem Kriegsschiff „Prince of Wales“ mitten auf dem Atlantik „Prinzipien für die internationale Zusammenarbeit zur Erhaltung von Frieden und Sicherheit“ formulierten und damit den ersten Anstoß für die Gründung der UNO gaben.
Die angloamerikanische „Atlantik-Charta“ fand bald breite Unterstützung. Im Januar 1942 verabschiedeten 26 Staaten, die damals alliiert waren im Krieg gegen die drei Achsenmächte Deutschland, Japan und Italien, in Washington eine „Deklaration der Vereinten Nationen“. Im September/Oktober 1944 einigten sich die USA, die UdSSR, China und Großbritannien auf einen ersten Entwurf für die UNO-Charta.
Damit waren die Weichen gestellt für die Gründungskonferenz in San Francisco. Um vor unliebsamen Überraschungen gefeit zu sein, ließ die US-Regierung die Delegationen der anderen Staaten bereits bei der Zuganreise nach San Francisco sowie während der achtwöchigen Konferenz abhören. Die Bedenken der Kolonialmacht Frankreich gegen Charta-Bestimmungen zur Entkolonialisierung hatten ebenso wenig eine Chance wie der Widerspruch einer großen Mehrheit der Teilnehmerstaaten gegen die Schaffung der Privilegien: ständiger Sitz und Veto.
Neben diesen beiden Privilegien liegen die wesentlichen Unterschiede und Fortschritte der UNO-Charta im Vergleich mit der Satzung des 1936 gescheiterten Völkerbunds im strikten Verbot der Ausübung und Androhung zwischenstaatlicher Gewalt (Artikel 2,4) in der Betonung der individuellen Menschenrechte (Präambel) sowie in den Sanktionsmöglichkeiten des Sicherheitsrats in Reaktion auf „die Bedrohung und den Bruch des Friedens“ (Kapitel 7). Nach Inkrafttreten der Charta am 24. Oktober 1945 traf die Generalversammlung ihre erste politische Entscheidung Ende Januar 1946. Unter dem Eindruck der verheerenden US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im Januar 1945 verabschiedete sie mit überwältigender Mehrheit eine Resolution zur „Beseitigung von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen“. Zumindest mit Blick auf die Atomwaffen ist diese Resolution bis heute Makulatur geblieben. Bezüglich chemischer Waffen wurde 1993 – nach 24-jährigen Verhandlungen – immerhin ein umfassendes Verbot vereinbart mit einem weit reichenden Kontrollregime. Beim Verbotsabkommen für biologische Waffen von 1972 fehlt ein solches Kontrollregime wegen des Widerstands der USA bis heute.
Im Oktober 1947 traf die UNO-Generalversammlung eine ihrer bislang umstrittensten und folgenreichsten Entscheidungen, die zudem bis heute nicht umgesetzt ist: die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat. Nach Palästina entsandte der Sicherheitsrat im Juni 1948 auch die erste militärische Mission der UNO-Geschichte zur Überwachung eines Waffenstillstands und zur „Bewahrung des Friedens“. Obwohl derartige „Peace keeping“-Missionen in der Charta überhaupt nicht vorgesehen sind, folgten bis zum Ende des Kalten Kriegs 17 weitere (unter anderem auf Zypern, im Libanon und an der indisch-pakistanischen Grenze). Die meisten dieser (inzwischen 39) Missionen konnten ihren Auftrag erfüllen, solange der Sicherheitsrat sie nur ins Feld schickte, wenn ein Waffenstillstand herrschte und die Zustimmung aller Konfliktparteien zur Stationierung von UNO-Blauhelmsoldaten vorlang. Da der Sicherheitsrat seit Ende des Kalten Kriegs mehrfach Missionen in Konfliktregionen schickte, in denen diese beiden Bedingungen nicht erfüllt waren (angefangen mit Bosnien 1992), hat sich die Bilanz des UN-Peace-keeping inzwischen verschlechtert.
1948 verabschiedete die Generalversammlung unter dem noch frischem Eindruck von Weltkrieg, Faschismus, Diktatur und dem Holocaust an den europäischen Juden die beiden – neben der Charta – wichtigsten Dokumente der bisherigen UNO-Geschichte: die – völkerrechtlich verbindliche – Konvention zum Verbot des Völkermords (Genozid) sowie die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, Grundlage für alle seitdem international vereinbarten Menschenrechtsnormen. An der Ausarbeitung beider Dokumente waren zahlreiche Überlebende deutscher Konzentrationslager beteiligt.
Ab Mitte der 50er-Jahre veränderten sich das innere Gefüge der UNO und die in ihrem Rahmen behandelten Probleme erheblich. Denn in Folge der Entkolonialisierung Afrikas und Asiens verdoppelte sich die Zahl der Mitgliedsstaaten bis 1960 auf 100. Bis 1989 stieg sie auf 160 – davon 80 Prozent aus der südlichen Hemisphäre. Die neuen Mitglieder organisierten sich in der „Gruppe der 77“ und der „Bewegung der Blockfreien“ und bestimmten mit ihren Forderungen und Vorschlägen zur Überwindung des globalen Nord-Süd-Ungleichgewichts ganz wesentlich die Debatten und Beschlüsse der Generalversammlung in den 60er- und 70er-Jahren. Auf ihre Initiative wurden unter anderem die UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung (Unctad) und das UNO-Entwicklungsprogramm (Unep) gegründet. Zahlreiche Beschlüsse dieser Sonderorganisationen sowie der Generalversammlung (zum Beispiel der Beschluss zur Stabilisierung der Weltmarktpreise für wichtige Rohstoffe aus Ländern des Südens) wurden von den Industriestaaten des Nordens allerdings nicht umgesetzt.
In Reaktion auf die Resolution zur Schaffung einer „Neuen Weltinformationsordnung“ und anderen politische unliebsamen Beschlüssen traten die USA und Großbritannien ab Anfang der 80er-Jahre aus einigen Sonderorganisationen der UNO aus. Darüber hinaus begannen die USA – der nominell größte Beitragszahler an den regulären UNO-Haushalt – mit der Zurückhaltung von Pflichtbeiträgen eine finanzielle Erpressungspolitik, die bis heute anhält und die Handlungsmöglichkeiten der Weltorganisation in den letzten 15 Jahren erheblich geschwächt hat.
„Nachfolgende Generationen vor der Geißel des Krieges bewahren“ – an diesem Selbstauftrag im ersten Satz der Charta sind die „Völker der Vereinten Nationen“ gescheitert. Über 250 Kriege und bewaffnete Konflikte gab es seit 1945. Dennoch hat die UNO Erhebliches geleistet beim Peace-keeping, im humanitären Bereich, in der Entwicklungspolitik sowie als Rahmen für den friedlichen Austrag von Interessengegensätzen.
Die weit verbreitete Hoffnung nach dem Fall der Berliner Mauer, die UNO werde nun befreit von der Ost-West-Blockade des Kalten Kriegs auch die uneingelösten Bestimmungen der Charta und Versprechen aus der Gründerzeit umsetzen, erfüllten sich nur teilweise. Zwar gelang 1998 endlich, die seit 1946 von der Generalversammlung beabsichtigte Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs. Auch verständigten sich die Mitgliedsstaaten auf den großen UNO-Weltkonferenzen der 90er-Jahre auf die wesentlichen globalen Herausforderungen und auf Programme und Aktionspläne zu ihrer Bewältigung. Doch bei der Umsetzung und Finanzierung dieser Pläne versagen die meisten UNO-Mitglieder. Das gilt auch mit Blick auf die rechtzeitige Bereitstellung militärischer Kapazitäten, wenn es – wie 1994 in Ruanda – darum geht, einen Völkermord zu verhindern oder zu beenden.
Die Terroranschläge vom 11. 9. 2001 sowie der angloamerikanische Präventivkrieg gegen Irak – der bislang schwerwiegendste Anschlag gegen die UNO-Charta – haben die Krise der UNO noch weiter verschärft. Die umfassenden Reformvorschläge von Generalsekretär Kofi Annan bieten eine Chance zur Überwindung dieser Krise. Ob die Mitgliedsstaaten diese Chance ergreifen, werden die nächsten Monate zeigen.