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Archiv-Artikel

Mythen für den neuen Krieg

Die nationalen Mythen wurden in den 90er-Jahren wieder aufgegriffen

VON ERICH RATHFELDER

Von Pflanzen überwuchert, doch noch deutlich zu erkennen, waren die Eisenbahnschienen, die parallel zum Una-Fluss in das ehemalige Vernichtungslager Jasenovac führen. Im Frühjahr 1990 war der Ort des Schreckens verwaist, wo während des von Mussolini und Hitler etablierten kroatischen Ustascha-Staates 1941–45 Zehntausende von Menschen interniert und ermordet worden waren. Die Ruhe damals bezeichnete eine Zeitenwende. Denn noch wenige Monate zuvor hatten Tausende von Arbeitern und Angestellten, Schüler und Studenten täglich das Denkmal von Jasenovac besucht. Der kommunistische jugoslawische Staat wollte durch das Gedenken an die Toten des Zweiten Weltkrieges „bratstvo und jedinstvo“, die „Brüderlichkeit und Einheit“ der Völker Jugoslawiens befördern.

Doch 1990 war im zerfallenden Jugoslawien eine andere Stimmung. In Serbien suchten Nationalisten die Toten von Jasenovac für ihre Agitation zu nutzen. Sprachen die Kommunisten nach der Befreiung des Konzentrationslagers Anfang Mai 1945 noch von rund 80.000 Opfern hier – insgesamt sollten 200.000 Menschen ermordet worden sein –, vermehrte sich die Zahl der Toten in der serbischen Propaganda auf über eine Million. Im Gegenzug versuchte der Präsident Kroatiens, Franjo Tudjman, die Zahl der Toten auf 30.000 zu begrenzen. Jasenovac stellte das Massaker von Bleiburg im Mai 1945 entgegen. Damals sollten mehr als 200.000 Kroaten durch kommunistische Partisanenverbände gefangen und viele ermordet worden sein. Seriösere Quellen rechnen mit ebenfalls rund 80.000 Gefangenen. Diese Soldaten und Zivilisten hatten sich der britischen Armee ergeben. Die Briten lieferten sie aber an die Partisanen aus.

Die Geschehnisse während der deutsch-italienischen Besatzung Jugoslawiens diente den Nationalisten beider Seiten, sich ihr eigenes Weltbild zurechtzubiegen. Die nationalen Ideologen konnten dies tun, weil während der Herrschaft des langjährigen kommunistischen Staatschefs Josip Broz, genannt Tito, seit 1945 ein Großteil der geschichtlichen Wahrheit unter den Teppich gekehrt wurde.

Die offizielle Version der Ereignisse hob vor allem den Freiheitskampf der Tito-Partisanen gegen die Besatzungsmächte hervor und verschwieg die eigenen Verbrechen. Tito war es zwar gelungen, die Gegensätze zwischen den verschiedenen Nationen Jugoslawiens abzubauen und bis zu seinem Tod 1981 ein friedliches Zusammenleben zu organisieren. Gleichzeitig aber belastete das Regime die historische Forschung in Jugoslawien selbst mit zu vielen Tabus. Über die Vertreibung der 600.000 Deutschen und der 200.000 Italiener 1945/46 oder die Massenvergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee, die im Frühjahr 1945 bis Belgrad vordrangen, wurde ein Mantel des Schweigens gelegt. Doch für das Verständnis der Kriege der 90er-Jahre viel wichtiger war die Haltung des kroatischen Kommunisten Tito zur größten Nation Jugoslawiens, den Serben. Um die Serben für das sozialistische Jugoslawien zu gewinnen, spielte das kommunistische Regime die serbischen Verbrechen während der deutschen Besatzungszeit herunter. Er ließ zwar 1946 den königstreuen Führer der Tschetniks („Schutztruppe“) Draza Mihailović wegen Kollaboration mit Wehrmacht und SS hinrichten. Und das rührte sicherlich am serbischen Stolz. Denn der vom britischen Geheimdienst unterstützte Putsch serbischer Offiziere unter Draza Mihailović gegen den Beitritt Jugoslawiens zu den Achsenmächten im März 1941 hatte Hitler gezwungen, Jugoslawien am 6. April anzugreifen und damit den Russlandfeldzug kriegsentscheidend zu verschieben. Doch dass die Deutschen schon am 17. April ein Quislingregime in Serbien etablieren konnten, wurde später verschwiegen und ist bis heute in der breiten Bevölkerung verdrängt.

Nicht nur die kroatischen Ustaschen („Aufständischen“) begingen unter dem Schirm der deutschen Besatzung nämlich Verbrechen. General Milan Nedić, ein serbischer Petain, wurde von der serbischen Faschistenpartei Zbor, den Ljotić-Truppen und anderen Tschetnik-Verbänden unterstützt. Das Gros der Tschetniks leistete anfänglich Widerstand gegen die Deutschen, kämpfte jedoch ab Herbst 1941 vor allem gegen die Partisanen Titos und suchte immer wieder die Nähe der Besatzungsmächte. Tabu war es im Tito-Staat auch, über die Massaker der Tschetniks an den bosnischen Muslimen entlang der Drina, in Foca und Visegrad 1943 zu sprechen.

„Das alles hatte vor allem Serbien in die Sackgasse geführt, die Serben brauchten weniger noch als andere Nationen ihre Geschichte der Kollaboration mit dem Faschismus zu hinterfragen“, sagt der als kritischer Intellektueller bekannte kroatische Verleger Nenad Popović. Nur eine seriöse Forschung über die Geschichte Jugoslawiens und seiner Nationen hätte dem Wiederaufleben des Nationalismus Einhalt gebieten können.

Für den Politikwissenschaftler Gajo Sekulić aus Sarajevo tragen die nationalistischen Intellektuellen aller Nationen im ehemaligen Jugoslawien Verantwortung für den 1991 wieder offen zu Tage getretenen Konflikt. Nach Titos Tod hätten Wissenschaftler die Geschichte lediglich vom Standpunkt ihrer eigenen Nationen her neu interpretiert. Die Mythen, so betonen Popović und Sekulić übereinstimmend, überlebten wie in einem Eisschrank und konnten später von den jeweiligen Nationalisten mobilisiert werden. Für den Krieg ab 1991 ausschlaggebend war, dass viele Serben sich angesichts der kommunistischen Geschichtsschreibung nur als Opfer des Faschismus, nicht auch als Täter, fühlen und unter diesem Deckmantel die alte Politik eines Großserbien verfolgen konnten. Die „Rache“ für die Verbrechen der Ustaschen 1941 trieb die wieder erstandenen „Tschetniks“ der 90er-Jahre an, Nichtserben aus den von Serben besetzten Gebieten zu werfen. In Bosnien war die Region Ostbosnien, von Foca, Visegrad bis hin nach Srebrenica, erstes Angriffsziel serbischer Freischärler und der Armee, es kam zu ähnlichen Massakern wie 1943.

Aber vielleicht ist heute eine positive Zeitenwende eingetreten. 60 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Jasenovac ist die von kroatischen Soldaten 1994 zerstörte Gedenkstätte wieder hergerichtet. Hunderte von Menschen besuchen sie täglich. Hoffnung gibt vor allem, dass die in ihren Ländern als „zu liberal“ angefeindeten Präsidenten Serbiens und Kroatiens, Boris Tadić und Stipe Mesić, kürzlich übereinstimmend erklärten, der Streit um die Zahl der Toten sei irreführend. Den Opfern zu gedenken hieße, alles zu tun, die Geschichte niemals mehr zu wiederholen.