: Flamingos als Vorboten
ARBEITSSUCHT Stark besetzt, stark gespielt und stark verstörend: Das Schauspielerfestival „Vineta“ zeigt, dass nicht nur Arbeitslosigkeit krank machen kann (22.45 Uhr, ARD)
VON DANIELA ZINSER
Zwei Walnüsse in der linken Hand, unablässig aneinander gerieben, gedrückt. Sie sind die einzige sinnliche Empfindung, die Sebastian Färber noch zulässt, sein einziger Kontakt. Färber ist Spitzenarchitekt, der lebt, um zu arbeiten, der manisch mit Kohlestiften Bauten auf Papier wirft und die Nüsse tütenweise in der Küche stapelt. Doch seine Visionen sind längst jenseits aller Realisierbarkeit, sein Herz ist fast schon im Jenseits. Sein Partner will ihn loswerden, seine Tochter ist voller Sorge um ihn.
Wie Peter Lohmeyer diesen Färber spielt, fiebernd, fahrig, ohne Regung im Gesicht, gehetzt, schlaflos, das ist eines der vielen Bilder, die sich einprägen im 2005 entstandenen Kinofilm „Vineta“ von Regisseurin Franziska Stünkel, der in der Reihe „Debüt im Ersten“ läuft. Das Drehbuch entstand nach dem Theaterstück „Republik Vineta“ von Moritz Rinke und erzählt von Arbeitswut und Kontrollsucht, ist Gesellschaftskritik und Psychogramm voller poetischer Bilder.
Eines davon zeigt die Flamingos, die Färbers Tochter im Zoo pflegt, die hinausstürmen ins Außengehege – nur einer bleibt zurück, dreht um, stolziert in die Ecke, um zu sterben. Erst viel später versteht der Zuschauer dieses Bild, das sich durchzieht durch den Film, das Pink der Flamingos fließt wieder und wieder über den Bildschirm wie Blut.
Dieses Pink und das kalte Blau von Neonröhren und Schnee in der Dämmerung bestimmen die Bilder, zeigen in ihrer Künstlichkeit die Unfähigkeit Färbers zur echten Wahrnehmung. Wasser hat er seit Jahren nicht mehr bewusst gespürt und seine Fenster verhängt er gegen zu viel Licht.
Immer nah am Zusammenbruch, erhält Färber plötzlich einen Geheimauftrag. Der mysteriöse Doktor. Leonhard (Ulrich Matthes) bringt ihn zusammen mit einem Investmentbanker, einem Sicherheitspolitiker, einem Seefachmann und einem weiteren Architekten auf eine verschneite Insel. Hier sollen sie innerhalb von zwei Wochen die ideale Stadt entwerfen, sicher und trotzdem lebenswert. Sie soll auf Vineta entstehen, einer Insel im Baltischen Meer, die die Bundesrepublik gekauft und Leonhards Firma damit beauftragt haben soll, als Schutz gegen den Terrorismus dort eine Welt zu bauen, die sicher und doch lebenswert ist. Schnell gerät Färber mit seinem Kollegen aneinander, der einen Überwachungsstaat aus Beton errichten will. Färbers Vision ist eine Begegnungsstätte über dem Meer, eine soziale Gemeinschaft, in der ein Miteinander möglich ist und die Kontrolle von alleine kommt.
Das Zusammentreffen ist ein Schauspielerfest: Ulrich Matthes als kalter, wahnsinniger Leiter, Justus von Dohnányi als paranoider Architekt mit Kontroll- und Machtfantasien, Matthias Brandt als ängstlicher Banker, der merkt, dass etwas nicht stimmt mit diesem Auftrag. Wie sie Schneemänner bauen und darum konkurrieren, wer den Kopf draufsetzt, oder zur Entspannung mit den Füßen in Eiswasser stehen, wie jeder zu funktionieren versucht und keiner echt ist dabei, das ist aufwühlend gut.
Bald kommen Färber Zweifel: Werden sie überwacht, gibt es Leonhards Firma wirklich und ist das Interesse von Leonhards Assistentin Nina, in die Färber sich verliebt, echt? Beeindruckend und nachhaltig zeigt „Vineta“ inmitten aller Diskussion um Arbeitslosigkeit, was auch die Arbeitswelt den Menschen antun kann – und was Arbeitssüchtige sich selbst und anderen antun. Bis zum Zusammenbruch oder bis zum Neubeginn. Bis die letzten Walnüsse zu Boden fallen.