: Die Epoche der USA
VON NORMAN BIRNBAUM
Ein langes Leben hat auch seine Vorteile. Wenn ich heute auf das Jahr 1945 zurückblicke – ich war damals 19 –, stelle ich fest, dass wir damals nur wenig von dem vorausgesehen haben, was seither geschehen ist.
1945 war für Deutschland das Jahr null, für die Nazi-Mehrheit das Ende, für die wenigen Gegner ein Anfang. Für das übrige Europa, vom Krieg erschöpft, verwüstet, traumatisiert, bedeutete es Hoffnung. Der Widerstand in Westeuropa hatte die gegensätzlichsten Kräfte vereint, und zunächst versuchten diese auch, die Einheit aufrechtzuerhalten: für den Wiederaufbau oder den Neubeginn einer Zivilisation. Einen wesentlichen Beitrag leisteten dabei die Befürworter eines neuen Europa, die eine Vision dessen entwickelten, was später die EU werden sollte.
Das Schicksal Europas hing jedoch von den USA ab. Sie waren mit einer enormen Leistungsfähigkeit aus dem Krieg hervorgegangen und hatten die absolute militärische Vorherrschaft erreicht. Auf politischer Ebene markierte dabei der Tod Franklin D. Roosevelts im April 1945 das Ende einer Epoche des sozialdemokratischen Internationalismus – noch ehe er überhaupt richtig begonnen hatte. Sein Nachfolger, Harry S. Truman, blieb zwar innenpolitisch ein treuer Anhänger des New Deal, doch in internationalen Fragen ließ er sich von Kapitalisten, Generälen und Politikern beraten, die nicht die geringste Absicht hatten, die Macht mit anderen Nationen zu teilen.
Die damals gegründeten Vereinten Nationen wurden zum Schauplatz einer neuen globalen Konfrontation. Truman teilte sich die Verantwortung für den Kalten Krieg gerecht mit Stalin. In der absurden Überzeugung, dass der Kapitalismus sich nicht erholen könne, und durchaus im Bewusstsein der großen Schwäche der vom Krieg verheerten UdSSR entschied sich Stalin für eine offensive Strategie. Angesichts dessen scheiterten auf US-Seite gemäßigtere Kräfte wie George Kennan, die lediglich für eine Eindämmungspolitik gegenüber der UdSSR plädierten. Sie hatten keine Chance gegen die Kräfte, die 1945 die Konfrontation mit der UdSSR und die Ausrottung des „Kommunismus“ anstrebten.
In Asien war der Krieg im Mai noch nicht zu Ende. Die meisten von uns Amerikanern betrachteten Asien als den Schauplatz, an dem die USA ihre Macht demonstrieren müssten. Als wichtigste Beute war China ausgemacht. Der Verlust an den Kommunismus – so der Jargon, mit dem der Eindruck erweckt wurde, als sei China unser Eigentum gewesen – war ein Schock. Er erleichterte es jedoch, im Inneren für den Kalten Krieg zu mobilisieren.
Vor diesem Hintergrund konnte man die Ereignisse in Westeuropa verstehen. Den Europäern wurde es gestattet, Wohlfahrtsstaaten zu errichten. Ja, sie wurden sogar von den bis 1952 regierenden Vertretern des New Deal geradezu ermutigt, sich im Kalten Krieg auf die Seite der USA zu stellen. Dies führte in Frankreich und Italien zum Ausschluss der Kommunisten aus der Regierung, zur Wiederbewaffnung Deutschlands und zum Verzicht der Bundesrepublik auf Vereinigung und Neutralität.
Dass sich Europa zumindest teilweise der Vorherrschaft der USA entgegenstellte, hat vor allem vier Gründe. Da war zunächst der Widerstand de Gaulles. Sein „Europe des patries“ hatte zwar sicherlich nicht gerade viel Ähnlichkeit mit einer föderativen Union, doch seine Vision eines „Europas vom Atlantik bis zum Ural“ hatte etwas Prophetisches. Der zweite Grund war das Aggiornamento von Papst Johannes XXIII., der eine Öffnung zur modernen Gesellschaft einleitete – begleitet von der vatikanischen Politik der Koexistenz mit dem Kommunismus. Dadurch wurde der Aufstieg der italienischen Kommunisten zu einer Säule der Demokratie in Italien möglich und mit John F. Kennedy ein Wiederaufleben des katholischen Progressivismus in den USA und Lateinamerika.
Als dritter Grund ist die Ostpolitik Willy Brandts zu nennen, durch die sich die Bundesrepublik von einem amerikanischem Satellitenstaat quasi zum souveränen Staat entwickelte – und die die historischen Voraussetzungen für die Reformen Gorbatschows schuf.
Zu guter Letzt kommt noch die Protestbewegung der 60er-Jahre hinzu – ein ideologisches Exportgut aus Amerika, auf das wir stolz sein können. Mit ihr wurde die Demokratisierung Deutschlands vorangetrieben. Eine Zeit lang eröffneten sich damals für alle politischen Strömungen Westeuropas neue Möglichkeiten.
Die Wirtschaft der USA war die erste, die in das neue Zeitalter der Globalisierung eintrat. Bewohner des gesamten Erdballs kamen, legal oder illegal, in die USA, um ihre Arbeitskraft billig zu verkaufen. Das amerikanische Finanzkapital übernahm vom Industriekapital die Rolle als treibende Wirtschaftskraft. Es gab keine ernsthafte nationale Diskussion über unsere Rolle in der sich verändernden Welt. Eine Gruppe von systemkonformistischen Außenpolitikern beherrschte die Tagesordnung und brachte am Ende nicht mehr als den Mut auf, Kinder der Arbeiterklasse in den Kampf zu schicken.
Europa hatte nur wenig Gelegenheit, in das narzisstische Triumphgeheul der USA einzustimmen, das nach dem Fall der Berliner Mauer ausbrach. Doch konnten die Europäer sich gratulieren, dass sie dem Druck der Amerikaner standgehalten hatten, die den Kalten Krieg noch hatten verstärken wollen. Man denke an Genschers Aufruf: „Lasst uns vor allem unsere Ideen modernisieren, nicht unsere Waffen.“
Das vereinigte Deutschland und die erweiterte Europäische Union werden nun von einer sich immer stärker aufdrängenden Frage umgetrieben: Wird das europäische Gesellschaftsmodell zerstört? Wie kann es gegen die gesammelten Kräfte der Globalisierung bestehen? Durch die Einwanderungswellen aus Afrika und Asien und die Bewegungen von Ost- nach Westeuropa ist die Lage auch nicht einfacher geworden, denn damit werden – in Form von Fremdenfeindlichkeit – die Gespenster der Vergangenheit heraufbeschworen. Die rechtsextremen Parteien British National Party, Front National, Lega Nord oder NPD bieten keine Überraschungen für jemanden, der die 30er- und 40er-Jahre erlebt hat – mit Ausnahme der Tatsache, dass wir mittlerweile das Jahr 2005 schreiben.
Von den antikolonialistischen und antiimperialistischen nationalen Befreiungsbewegungen der 40er haben wir uns viel erwartet. Nicht aber, dass ein großer Teil Afrikas in endemische Gewalt und brutale Armut versinken würde. Auch die Zickzack-Entwicklung des Kapitalismus in Asien haben wir nicht vorausgesehen, ebenso wenig das Scheitern des Sozialismus in Lateinamerika. Und schließlich China: Anstatt eine Kreuzung aus Konfuzianismus und Marxismus zu entwickeln, wird es – in schamlos unverhüllter Weise – zum Inbegriff der primitiven kapitalistischen Akkumulation.
Wir haben bestimmt nicht vorhergesehen, dass ausgerechnet der Islam sich dem Kampf gegen den globalen Kapitalismus verschreiben würde – doch schließlich hätten wir auch nicht gedacht, dass in den USA ein fundamentalistischer Protestantismus wieder zu einer ernst zu nehmenden Kraft würde.
Wird die Welt, sechzig Jahre nach 1945, erneut von der Kultur, dem Wirtschaftsmodell, der Macht der USA dominiert? Der Schein täuscht diejenigen, für die die Überlegenheit der USA eine Glaubensfrage ist. Ohne Einvernehmen über eine nationale Kultur und mit einer zu unvollkommenen Demokratie kann ein geteilter amerikanischer Staat die Rolle in der Welt, die er für sich in Anspruch nimmt, nicht weiter aufrechterhalten. Wenn die Europäer, besonders die Westeuropäer, nicht die Gelegenheit nutzen, ihre Unabhängigkeit und ihr Recht auf Gleichheit bei der weltweiten Autorität zu beanspruchen, bedeutet dies nicht automatisch, dass die USA am Ende als Sieger dastehen werden.
China und Indien, die neue Koalition in Lateinamerika unter Führung von Brasilien, Russland, das sich allmählich von der Verheerung durch die Habsucht seiner kapitalistischen Oligarchen erholt: Dies werden die Staaten sein, die künftig die historische Tagesordnung diktieren. Der militante Islam wird nicht durch billigen Konsumismus ersetzt werden. Die Welt wird sich in ständigen Konflikten befinden, wobei die USA sich isolieren und verzweifelt versuchen werden, den Niedergang abzuwenden.
Aus dem Amerikanischen: Beate Staib, dah