: Die Stunde der Intriganten
Großartiger Beginn des Theatertreffens! Die Eröffnungsinszenierungen bewegen sich intelligent weg von der Diskursmaschine – „Othello“ von Stefan Pucher (Schauspielhaus Hamburg), „Nibelungen“ von Andreas Kriegenburg (Münchner Kammerspiele)
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Mannomann, was für Massen. Was für Massen an Stoff, an Bildern, an Publikum. Kaum zwei Tage ist das Theatertreffen alt, schon saß, wer zu den glücklichen Kartenbesitzern gehört, über acht Stunden im Theater, das Rahmenprogramm nicht eingerechnet. Müde reiben sich Öffentlichkeitsarbeiter die Augen zwischen der Eröffnungspremiere von „Othello“ (aus dem Schauspielhaus Hamburg) und dem Beginn der knapp sechsstündigen „Nibelungen“ (von den Münchner Kammerspielen) am nächsten Nachmittag kamen sie knapp nur zu Schlaf und Frühstück. Ab jetzt gilt der Ausnahmezustand, jedes laute Hallo im Gedränge der Foyers bestätigt ihn.
Denn mit den zehn „bemerkenswerten“ Inszenierungen, die das Theatertreffen jedes Jahr nach Berlin einlädt, feiert das Festival zugleich sich selbst und sein Festhalten am Theatersystem als Kulturträger. So mit Erwartung aufgeladen, will man nicht einfach nur gutes Theater, sondern noch einen Kick mehr. Und in der Tat, die ersten beiden Inszenierungen sind nachhaltig geeignet, das Theaterspiel als ein Medium, die eigene Gegenwart und Veränderungen im Verhältnis zur Geschichte zu reflektieren, voll auf der Höhe seiner Möglichkeiten zu erleben.
Es geht in beiden Inszenierungen erstaunlich wenig um Politik und ihre ideologischen Voraussetzungen. Zumindest gemessen an dem, was lange als linkes und kritisches Verhältnis zur Geschichte galt, die Shakespeares „Othello“ nicht ohne Positionierung gegenüber dem Diskurs der Rassen und „Die Nibelungen“ von Friedrich Hebbel nicht ohne Hinterfragung vom Gebrauch des Mythos in der Erfindung des Deutschen sehen konnten. Stefan Pucher setzt dies beim „Othello“, Andreas Kriegenburg setzt dies bei den „Nibelungen“ als Basiswissen voraus, und darin sind sie vielleicht große Optimisten. Dagegen geht es erstaunlich viel um private Entscheidungen und Verantwortung: Wer so wenig über Realitätssinn in der Liebe verfügt wie Othello gegenüber Desdemona, wer so unfähig ist zu erkennen, wen er vor sich hat, wie Gunter gegenüber Brunhilde, dem ist auch in der Politik nicht zu trauen. Er sieht nicht, was nötig wäre. Zu fest klammern die Helden am Bild des Selbst, um die Augen noch offen zu haben für anderes. Das ist nicht die Übermacht von Schuld und Schicksal, die sie in den Untergang treibt, sondern ihr eigenes Versagen in Momenten, in denen sie noch die Wahl hatten.
Die Aufführungen bewegen sich damit wieder weg von der Diskursmaschine zur Konzentration auf eine Story, und das bekommt der Aufmerksamkeit des Zuschauers außerordentlich gut. Das Aufblättern der Diskurse aber, mit dem diese Regisseure, beide Anfang vierzig, groß geworden sind, hat dennoch seine Spuren hinterlassen in der Vielfältigkeit, mit der das Spielen selbst angegangen wird.
Kriegenburgs „Nibelungen“ wechselt wie ein Chamäleon mehrmals seine Farbe und ist deshalb trotz seiner Länge eigentlich nicht monumental. Der erste Teil, der vom Freien um Brunhilde und Kriemhild und den Männerbündnissen zu diesem Zweck erzählt, ist überraschend leicht, kalauernd und mit Karikaturen des Heldischen gespickt – selbst diese Nibelungen würden ihren Kummer lieber öfter mit Musik ausdrücken, statt kettenklirrend Stärke zu markieren, allein der Tontechniker spielt nicht mit. Je mehr aber Kriemhild das Geschehen übernimmt, um sich für Betrug und Mord zu rächen, desto schmaler wird der mögliche Abstand zwischen Rolle und Spiel, die Fluchten ins Komische gelingen nicht mehr. Der Untergang, der am Ende als Epos erzählt wird, aber ist so ergreifend traurig, wie man es kaum wahrhaben möchte – dass die, die voller Fehler sind, nun doch so viel Mitleid wecken.
Der „Othello“ von Stefan Pucher ist dagegen mehr aus einem Guss. Die Gegenspieler Jago und Othello nehmen sich nichts in ihrer Eitelkeit und dem Aufbau ihrer Macht als glamouröse Entertainer. Während Jago mit dem Publikum flirtet, gewinnt Othello, die Karte der Intuition des wilden Künstlers ziehend, die Herren von Venedig für sich. Immer wieder sieht man im Hintergrund der Videoprojektionen seinen schwarz geschminkten Körper den Takt vorgeben für die Party der Herren der Stadt. Seine persönliche Tragödie wird denn auch immer wieder zum Stoff einer großartigen Musiknummer, und dieser schöne Gewinn, den er aus allen Schmerzen zieht, enthebt den Zuschauer denn doch der Empathie. Aber nahe dran war man schon.
Jago und Hagen von Tronje, die Intriganten beider Stücke, aber machen das Rennen. In diesen Figuren, die Verrat und Auftragsmord rational zu verteidigen wissen, rächt sich das Theater unentwegt an den Erfolgsmenschen der Gegenwart. Gegen ihr nüchternes Kalkül rennt die Wut aller Betrogenen vergeblich an. Und nichts sehnt man so herbei wie ihren Fall.