Das Unreine in der Kunst

Auf der Suche nach der Grenze zwischen Kunst und Verbrechen: Russland muss sich erst noch einen Begriff von der Freiheit der Kunst machen

VON SANDRA FRIMMEL

Kunst als Verbrechen und als Anlass für Strafe – in Russland nimmt dieses Beziehungsgeflecht seit geraumer Zeit eigenwillige Formen an. 1998 floh Avdej Ter-Oganjan vor einer Verurteilung durch das Moskauer Strafgericht wegen Volksverhetzung und Gotteslästerung nach Tschechien, nachdem er im Rahmen seiner Performance „Young Antichrist“ Ikonen aus seinem Privatbesitz zertrümmert hatte. 2000 entzog sich der Regisseur und Performancekünstler Oleg Mavromatti der strafgerichtlichen Verurteilung durch die Flucht nach Bulgarien, nachdem er sich im Rahmen seiner Aktion „Traue deinen Augen nicht“ ans Kreuz hatte nageln lassen. In den vergangenen zwei Jahren dienten nun die Geschehnisse rund um die Ausstellung „Vorsicht, Religion!“ zur Auslotung der äußerst sensiblen Grenzlinie zwischen Kunst und Verbrechen.

Ein kurzer Rückblick: Wenige Tage nach der Eröffnung der Ausstellung „Vorsicht, Religion!“ im Moskauer Sacharow-Zentrum für Frieden, Fortschritt und Menschenrechte Mitte Januar 2003 wurde die Ausstellung von sechs ultraorthodoxen Gläubigen gestürmt, die die Kunstwerke mit Farbe beschmierten und auf sie einschlugen. Zwei von ihnen wurden daraufhin wegen Vandalismus angeklagt, Mitte des Jahres allerdings freigesprochen. Stattdessen wurde Anfang 2004 ein Prozess wegen Volksverhetzung gegen den Direktor des Sacharow-Zentrums, Juri Samodurow, dessen Mitarbeiterin Ljudmila Wasilowskaja und die Künstlerin Anna Altschuk vor dem Strafgericht angestrengt, in dem Ende März das Urteil erging: Samodurow und Wasilowskaja wurden zu jeweils 100.000 Rubeln (2.700 Euro) Geldstrafe verurteilt, da die Ausstellung „verhöhnend, zynisch und gotteslästerlich“ gewesen sei. Anna Altschuk wurde freigesprochen. Die als Beweismittel beschlagnahmten Kunstwerke sollen den Künstlern zurückgegeben werden. Erst hatte die Anklage gefordert, sie zu vernichten.

Diese Vorgänge werden überwiegend als Machtkampf zwischen der unter Putin wieder erstarkenden orthodoxen Kirche und der zeitgenössischen Kunst gedeutet. Zweifel an der Eindeutigkeit dieser Interpretation kommen jedoch auf, wenn man die jüngste Episode dieser langjährigen Geschichte betrachtet. Gegen die Ausstellung „Russland 2“ des bekannten Moskauer Galeristen Marat Guelman auf der ersten Moskauer Biennale Anfang des Jahres wurden ebenfalls mehrere Klageschriften eingereicht. Einige Arbeiten würden den russischen Präsidenten diskreditieren, die Ausstellung sei antipatriotisch. Die Klage einiger orthodoxer Gläubiger vor dem Strafgericht wurde abgewiesen, eine weitere von Mitgliedern des Moskauer Künstlerverbandes vor dem Zivilgericht jedoch zugelassen. Sie verklagen Guelman auf 5 Millionen Rubel (135.000 Euro) als Kompensation für den erlittenen moralischen Schaden wegen Verletzung religiöser und zudem nationaler Gefühle. Vor diesem Hintergrund scheint sich hier der Wunsch des Staates – gestützt von großen Teilen der Bevölkerung– auszudrücken, sein Monopol auf die Kontrolle des künstlerischen Geschmacks zurückzugewinnen, so wie er es zu Sowjetzeiten durch die Künstlerverbände innehatte, die die gesamte offizielle Kunstproduktion kontrollierten. Russland befindet sich 14 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion immer noch, und das ist nach dieser relativ kurzen Zeit letztendlich nicht weiter verwunderlich in einer Situation, in der zahlreiche Grenzen erst noch ausgelotet werden müssen. Hierzu zählen wesentlich die Grenzen der Kunst, die zu Sowjetzeiten eben nicht frei, sondern staatlich gelenkt war – und mit ihnen der Publikumsgeschmack.

Wie wenig sich die derzeitige Lage in Russland im Grunde als Ausnahmesituation darstellt, zeigt ein Rückblick ins Nachkriegsösterreich der 60er-Jahre. Gegen die Künstler des Wiener Aktionismus wurden immer wieder Prozesse angestrengt, die in einigen Fällen tatsächlich zu Verurteilungen mit Gefängnisstrafen führten. Günter Brus beispielsweise floh, ebenso wie Ter-Oganjan und Mavromatti, außer Landes nach Berlin, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, nachdem er wegen Verunglimpfung der Staatssymbole zu sechs Monaten Haft verurteilt worden war – er hatte 1968 im Rahmen seiner Aktion „Körperanalyseaktion Nr. 33“ unter anderem onanierend die österreichische Nationalhymne gesungen.

In Russland versucht die zeitgenössische Kunst immer noch, sich einen festen Platz in der Gesellschaft zu sichern. Doch das ist ein langwieriger und kräftezehrender Prozess in einem Staat, in dem über viele Jahrzehnte hinweg Partei- und Zensurorgane bestimmten, was Kunst sei, was sie dürfe und was nicht. So lange diente Kunst nicht als Auslöser für aktuelle Diskussionen oder gar als Seismograf für gesellschaftliche Prozesse. Sie bestätigte die herrschenden Strukturen und stellte sie nicht in Frage. Dementsprechend heftig fallen heute die Reaktionen auf die zeitgenössischen Werke aus. Ein Gespür dafür, dass sich Kunstwerke erst im kontroversen Dialog mit dem Betrachter erschließen, hat sich noch nicht herausgebildet. Hier scheint Paolo Bianchis Formulierung von der „Duldung des Unreinen“ in der Kunst treffend, die sich im Westen seit den 60er-Jahren durchgesetzt hat. Jene Machtkämpfe um die Freiheit der Kunst, die in Europa und den USA bereits ausgestanden sind, stehen in Russland erst noch an. Der Ausgang dieses Streits, wie immer er verläuft, wird ein Indikator des Zustands der russischen Zivilgesellschaft sein.