: Der Mann, der gerade Leipzig rettet
AUS LEIPZIG THOMAS GERLACH
Der Erste kam mit einem Kombi voller bunter Dinge, fuhr durch die Leipziger Straßen, hielt vor den wenigen privaten Läden und am Abend leuchteten die meterlangen, armdicken Zigaretten im Dunkel. Der Nächste fuhr mit einem Lkw vor und verkaufte von der Ladebordwand Glotzen mit Fernbedienung, die bald ihren Geist aufgaben. Der Nächste war ein Oberstadtdirektor aus Hannover mit silbrigem Haar. Der wurde Oberbürgermeister und blieb. Den Ersten haben sie begrüßt, den Zweiten beschimpft und den Dritten geschätzt. Und dann kam Peter Claussen mit seinem BMW. Den möchte wohl mancher in Leipzig auf Händen tragen.
Peter Claussen gefiele das kaum. Er sitzt vor den Toren Leipzigs in einem gläsernen Raum wie in einer Frischhaltebox und weiß nichts von seinen Vorgängern, jedenfalls nicht viel. Man muss nicht alles wissen. Es reicht, wenn Claussen und der weißblaue Autobauer aus Bayern Arbeitsplätze schaffen, hunderttausend wären gut, hundertfünfunddreißigtausend besser – so viele haben sich bis jetzt bei ihm beworben. Claussen ist Chef des neuen BMW-Werks am Leipziger Stadtrand und nach dem Zigaretten-, dem Fernsehmann und dem Hannoveraner der aktuelle Messias.
Peter Claussen will nichts von dem Lorbeer, der ihm und seiner „BMW Group“ bündelweise hingeworfen wird, als wären sie allesamt Michael Schumacher. Claussen ist Ingenieur, Baujahr 51, so alt wird kaum ein Auto. Peter Claussen, geboren in Wetzlar, Maschinenbaustudium an der TU München, seit 1978 bei BMW in der Münchener Zentrale, es gab ein Intermezzo bei Rover in Oxford, dann Aufbau Werk Regensburg – ein Dasein zwischen Karosserien, Motoren und Fahrwerken.
Es gibt spannendere Lebenswege. Claussens hat nun nach Leipzig geführt: A9, am Schkeuditzer Kreuz Richtung Dresden, Abfahrt Leipzig Messe, die BMW Allee entlang, links und rechts sächsischer Acker und Kirchturmspitzen, hin zum Zentralgebäude. Hier wird er bleiben.
Es ist als hätte Fortuna selbst eine Autofabrik hingestellt, zwischen grünenden Saaten Wege planiert, Apfelbäumchen gepflanzt, die Lerche tiriliert. Eine industrielle Tektonik ließ einen weltlichen Weinberg wachsen im flachen Land binnen drei Jahren und bringt jetzt glitzernde Frucht: pures Blech, arktis- oder monacoblau, für 30.000 Euro aufwärts – Autos fürs neue Jahrhundert. Was einst 208 Hektar Feldmark war zwischen Plaußig und Hohenheida – Käffer, wo sich Fuchs und Hase ein „Gut Nacht!“ zuriefen – ist Autofabrik geworden. Einer der Letzten, der hier im Acker wühlte, war Gerhard Schröder, beim ersten Spatenstich im Mai 2002.
Fuchs und Hase sind fort, Gerhard Schröder kommt am Freitag wieder. Er wird strahlen, Deutschland beschwören, speziell die Kraft der „Neuen Länder“ und vermutlich einen Knopf drücken. Show. Peter Claussen sitzt in Freizeithose und Polohemd, wie ein Werkstattleiter nach Feierabend, nur das Pils fehlt.
Es war ein langer Weg vom Wendeherbst zu diesem Frühling. Hätte sich damals einer auf die Kanzel der Nikolaikirche verirrt und geweissagt: Wartet, es kommt die Zeit, da schweben Autos durch die Luft! Man hätte ihn weggebracht. Heute führt die neue, lautlose Montags-, Dienstags-, Werktagsdemo über allen Köpfen am Fabrikhimmel entlang: über den Desktops mit den Teamarbeitsplätzen, über Kantine, Chefetage und Cafeteria schweben die Karosserien von der Lackiererei zur Endmontage.
Chefetage ist nicht richtig. Peter Claussen hat Stuhl und Platz wie jeder andere. Mehr nicht. Dieses Produkt macht alle gleich. Dass es nun in Leipzig gebaut wird, daran hat Claussen gehörig Anteil. Und deswegen redet er seit zehn Minuten mit leiser, fast nachgiebiger Stimme über nichts anderes, als dass es jede andere Stadt auch hätte schaffen können – ganz so als habe das Los entschieden. „Die einzelnen Standorte habe alle ihre spezifischen Eigenheiten, die zu bewerten sind und die auf ihre Art wieder faszinierend sind.“ Kolin in Tschechien? „Wunderschöne barocke Stadt!“ Schwerin in Mecklenburg? „Landschaft pur und Wasser.“ Arras in Nordfrankreich? „Französisches Kochen und Essen!“
Lauter schöne Orte. Soll keiner denken, dass persönliche Vorlieben entschieden hätten. Bei so viel Savoir vivre klingt es fast, als hätte Werkschef Claussen bei der Aussicht auf sächsische Kartoffelsuppe und Mutzbraten ins Lenkrad gebissen. „Nein, überhaupt nicht.“ Er lacht kurz auf. Das klingt fest. Endlich. Vorsicht ist gut, Neutralität ja, aber schwindeln? Peter Claussen liebt Musik, vor allem Bach, und das Theater. Da hat Leipzig einiges als Mitgift eingebracht. Und über 300 Millionen Euro direkter Subventionen. BMW selbst zahlte rund eine Milliarde.
Sicher, Peter Claussen hätte all die Einsichten, von denen er redet, genauso in Frankreich, Tschechien oder sonst wo bekommen: faszinierende Menschen, Grundwerte wie Respekt, Kommunikation, Vertrauen – die übliche Litanei, all die Komplimente, die er streut wie jeder gute Beistand. Egal, die anderen Städte hätten dem auch gern gelauscht.
Aber es ist Leipzig. Verarschung gab es zur Genüge. Was kursierten nicht einst für Fantasien: dass sämtliche Bundesgerichte nach Leipzig kommen, dass die Industriemesse aus Hannover heimkehrt, dass Leipzig Handelsplatz für ganz Osteuropa wird, dass die alte Bedeutsamkeit über Nacht erwacht. Und dann die Olympischen Spiele! Das hätte für Depressionen gereicht.
Wenigstens das BMW-Werk steht. Keine blühende Landschaft, ein blühendes Feld, nicht allzu groß. Von den hundertfünfunddreißigtausend Bewerbern um Arbeit bei BMW werden fünftausendfünfhundert Glück haben, der Rest bleibt Statistik. Da muss der Chef des größten Werks in der Gegend aufpassen. Leipzig hat sich gegen 250 konkurrierende Städte durchgesetzt. Bei solch einem Triumph dreht mancher durch. „Ein Sechser mit Zusatzzahl“, jubelte ein Alter, als Leipzig den Zuschlag erhielt. Auch Lottogewinne müssen verkraftet werden.
In Sichtweite des Werks steht zur selben Zeit der neue 3er BMW, Vier- und Sechszylinder mit allem Pipapo. „Ach, der wird dann in Leipzig gebaut?“ Ein Grauhaariger mit funkelndem Ring schiebt seine Frau auf den Beifahrersitz, versinkt im Leder und nimmt Maß. Wie im Cockpit vorm Take-off drücken sie schweigend Tasten, Knöpfe, Hebel. Im Angesicht von neuen Autos werden Menschen stumm, dafür dröhnt Musik. Väter und Söhne blicken unter Motorhauben wie in ein Orakel, das gleich spricht. „Der Fader funktioniert nicht!“, rügt der Alte und zieht mit Frau davon.
Die sächsische Seele mag diffizil sein, Peter Claussen kennt sie: „Ein Bayer sagt ihnen direkt ‚nein‘, ein Sachse sagt ‚eher weniger‘ und ein Engländer sagt ‚not really!‘ “
Claussen hat das sächsische Gemüt erforscht. Vor der Entscheidung im Sommer 2001 hat er Leipzig inkognito erkundet, hat Bekannte, Geschäftspartner gefragt, hat resümiert. Und betont, das in den anderen Städten ebenso gehalten zu haben. Inzwischen sei sein Gesicht leider schon zu bekannt, was zu unverhofften Begegnungen führt. „Das Heftigste was mir bisher passierte, ist, dass ich an einer Ampel stehe und auf einmal jemand aus dem Auto springt, an meine Tür kommt und mir eine Bewerbung reinreicht.“ Es lebt nicht ruhig, wer für einen Retter gehalten wird.
Das BMW-Werk tut einiges. Etwa das Leipziger Theaterfestival „euro-scene“ unterstützen. Warum? „Ganz einfach, die stellt die spannenden Fragen der Zeit.“ Modernes Tanztheater passt ins Image. Die SG Seehausen, 3. Kreisklasse, vom Dorf hinterm Werkstor eher weniger.
Peter Claussen ist aufgestanden und verlässt den „Cubic“, den gläsernen Besprechungsraum, von denen es über 40 gibt. „Das Gebäude ist Programm!“ Offene Etagen wie die hängenden Gärten der Semiramis, darüber die Karosserien. Ein achtes Weltwunder für Leipzig. Wenn die Anlaufphase vorüber ist, werden 650 Autos pro Tag montiert. Claussen führt über Flure, Treppen in bläulichem Licht. Die Ruhe sei übrigens nichts besonderes. Autowerke arbeiten leise. Er führt hinauf und hinab, als hätte er ein Eigenheim gebaut. Er zeigt Montagebänder, Kantine, Holzfußboden, alles transparent, alles demokratisch, keine Extrawürste. Hier sollen sich Chef und Monteur ein „Mahlzeit!“ zurufen, jetzt hantieren noch Fußbodenleger. Ob er denn hier schon heimisch geworden ist? „Absolut. Ich freue mich jeden Tag, wenn ich reingehe.“
Draußen auf dem Werksgelände wurden im letzten August die ersten Äpfel geerntet. Irgendwo fanden Archäologen auch Reste von Jägern und Sammlern und einen Brunnen, 7.000 Jahre alt. Der wurde abgetragen. Es scheint, als wollten hier alle alles richtig machen. Und deuten. „Der jüngste archäologische Befund unter dem Autowerk zeugt die enge Verbindung zwischen unserer Vergangenheit und Zukunft – das A und O war damals wie heute Mobilität.“ Diese Kraft und Herrlichkeit hat nicht BMW zusammengebetet, sondern das Leipziger Rathaus.
BMW hätte einen Klon, einen Homunculus schicken können. Gar einen Ackermann. Leipzig hätte viele genommen. Es kam einer ohne Victory und poliertem Gebiss, einer, mit Musik im Kopf. August Everding habe ihm imponierte. So sehr, dass er einst überlegte, Musik und Theater zu studieren. Claussen steht am Eingang und träumt davon, Orchester ins Werk zu holen. Es ist Abend, die letzten Arbeiter schlendern aus dem Betonskelett hinaus. BMW feiert das Zentralgebäude der Londoner Architektin Zaha Hadid als „Kopf eines Wals“. Kein Weinberg, ein Wal. Der große Walfisch und der kleine Claussen – Legenden könnten so beginnen. Claussen geht hinein, als wäre er der Nachtportier.