kritik der woche: der pop-poet : Krämer gönnt jedem seine Apokalypse
Sebastian Krämers Publikum sieht sich am Rand der Katastrophe. Die Sonne bereitet sich auf ihren finalen Rülpser vor, und mit einer bei Ebay ersteigerten Atombombe kann jeder Frustrierte seine Apokalypse zaubern. In Zeiten, wo alle mit ihren eigenen Desastern genug zu tun haben, rückt Krämer mal wieder das große Finale in den Blick.
Kritiker pflegen über die phänotypische Harmlosigkeit des Kabarettisten und Chansonniers zu staunen. Ein kultivierter Pop-Poet im sandfarbenen Anzug. Optisch passt er sich also perfekt ins Ambiente des Braunschweiger Literaturfestivals „seitenweise“ ein, wo man im Varieté-Zelt während des Kulturgenusses Cappuccino schlürfen kann.
Dieser Mann hat zweimal den German International Poetry Slam gewonnen. Man ahnt, dass lichtscheue Tagebuch-Poeten, die ihre Lyrik gegen Freigetränke in Kneipen zum Besten geben, beim Wettlesen gegen Krämer nicht wirklich eine Chance hatten. Der kann einfach alles: Singen, Stand-Up-Plaudern und diese Gedichte schreiben, die einen innehalten und denken lassen: Was wäre aus dem Mann geworden, wenn er seinen Zorn nicht (offenbar von Helge Schneiders „Katzeklo“ inspiriert) der „Parkplatzuhr“ und seine Liebe nicht der anspruchslosen Pizza Margherita zugewandt hätte? Krämer lässt Jamben und Daktylen nach seiner Pfeife tanzen (was er sicherheitshalber vorher ankündigt, falls jemand im Deutschunterricht gepennt hat). Seine Wörter lehnen sich über die Zeilen hinaus, bis sie sich reimen, wo man es nie für möglich gehalten hätte. Und unter all der Akrobatik lauert ein Abgrund ohne Netz.
Der Wahnsinn und öffentliche Verkehrsmittel sind erstaunlicherweise Krämers vorherrschende Themen. Seine Helden sind psychiatrische Fälle wie der lebensmüde Specht, der den Kopf gegen den Baum schlägt, und der abservierte Pianist im Giraffengehege. Krämer holt die Poesie und das Gruselpotenzial der U-Bahnhöfe ans Licht. Nur von der Liebe berichtet er nichts Neues. Mau-Mau-Spielen im fremden Ehebett und Kuscheln im Altpapier – das lebt noch vom vergilbten Charme eines Tucholsky-Chansons.
Eine gemütliche Theateratmosphäre, sagt Krämer, sei ihm für ein Literatur-Event lieber als verrauchte Underground-Kneipen. Auf jeden Fall hat er die Poesie aus dem Slam-Untergrund zurück ans bildungsbürgerliche Licht geholt. ANNEDORE BEELTE
„seitenweise“ in Braunschweig noch bis 15. Mai, www.festival-seitenweise.de