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Archiv-Artikel

Auch Schwarz ist noch zu retten

Was kommt nach Rot-Grün? (2): Die Grünen haben in 25 Jahren den Sozialdemokraten zur Modernisierung verholfen. Ihr nächstes Projekt ist die Zivilisierung der Union. Sie braucht endlich ein Bewusstsein für gesellschaftliche Liberalität

Nähmen die Grünen ihre Prinzipien ernst, könnten sie sich mit der Union behaupten – dann gegen sie

VON JAN FEDDERSEN

Am Anfang stand der Anspruch, eine ganz andere Republik zu erschaffen. Man begriff sich als Antiparteienpartei, pflegte das Analysieren in den Kategorien der Apokalypse und hielt die Bundesrepublik für ein Feld der Mission. Das war Ende der Siebzigerjahre die Aura der Grünen-Entstehung; die Idee, Politisches der eigenen Agenda durchzusetzen, gar in Koalitionen, war eine absurde. Denn die SPD, das wird heute gern vergessen, war dominiert von Politikern wie Holger Börner und Helmut Schmidt.

Letzterer war Bundeskanzler und teilte auf die Frage, welche Utopien er hege, ja, was für eine Vision ihn umtreibe, kühl mit: Wenn er Visionen habe, gehe er zum Arzt. Das war natürlich kränkend für die Grünen – und die nahmen dieses Urteil, als spräche es überhaupt für die Aussichtslosigkeit dessen, was die Bunten, Grünen und Alternativen zu bewegen suchten.

Zehn Jahre später waren die ersten rot-grünen Koalitionen auf Landesebene begründet; seit 1998 regiert auch im Bund eine Regierung aus Sozialdemokraten und Grünen – und vom Geist der bunten Jahre ist wenig geblieben. Soll man das bedauern? In ein gemütvolles „Schön radikal war’s“ einstimmen? Muss sich nicht auch das grüne Projekt auf den Prüfstand stellen lassen – was es gebracht hat und was nicht? Wäre eine Bilanz nicht sinnvoll? Eine, die sich nicht vordergründig auf abgeschaltete Atomkraftwerke und neue Naturschutzgebiete beschränkt?

Bundespräsident Horst Köhler hat vergangenen Sonntag in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Siegs über den Nationalsozialismus eine Spur von dem durchschimmern lassen, was sich, jenseits ökonomischer Aufbauleistungen und des Gewinns politischer Freiheit als solcher, wirklich seither verändert hat, dass er „ein anderes Land als vor sechzig Jahren“ erkenne. Neben allem, was zum Anlass eben gesagt werden musste, sprach er lobend, als zähle er heilsame Medikamente auf, von Jazz und Rock ’n’ Roll, von ausländischen Büchern, von Filmen und Theaterstücken, vom neugierigen Reisen in alle Welt und vom „westlichen Lebensstil“ überhaupt, dem Antidot zur völkischen Hölle der Jahre bis 1945.

Sogar die Grünen erwähnte der Bundespräsident, als Promotoren der Umwelt, als Sachwalter der Natur. Eine freundlich-integrative Geste, mit der er die einstigen Schmuddelkinder der Republik bedachte – und doch eine, die zu kurz greift, und das ahnt man im Bundespräsidialamt, immerhin unionsgeführt, wahrscheinlich sehr genau. Vergessen hat Köhler in seiner Ansprache alles, was unter Grünen zum mythologischen Kern dessen zählt, was ihrer Parteiwerdung vorausging: die Ära von Achtundsechzig nämlich. Und die war tatsächlich das, was jene Zivilisierung der Bundesrepublik unterhalb der Einbindung in die westliche Welt und ihrer Ökonomie mobilisiert hat. Alles, was die Fuffziger so muffig, so ledern und obrigkeitsgesellschaftlich machte, schien aufzubrechen, und die Grünen sind jene Partei, die diese Impulse zur Politik machten.

Sie waren es, und sind es noch, die die „Feminisierung der westlichen Welt“ (Heinz Bude) in Deutschland protegierten; sie waren es, die Gewalt in den Familien zum Thema machten; sie waren es, die Homosexuelles überhaupt zum Thema machten, die Sexualität nicht mit falscher Prüderie begriffen und die, auf einer anderen Ebene, die Idee der Moderation beförderten – Konflikte, Interessengegensätze nicht durch Freund-Feind-Schemata zu lösen, sondern durch Ausgleich. Und: Den Grünen ist’s zu danken, dass die so genannte Vergangenheitsbewältigung hartnäckig unter keinen Teppich gekehrt werden konnte. Dass Richard von Weizsäcker, einer von Köhlers Vorgängern, 1985 in Sachen Kriegsende überhaupt von einer „Befreiung“ Deutschlands reden konnte, war in gewisser Hinsicht nur denkbar, weil die Zivilgesellschaft für einen geschichtspolitischen Diskurs auch durch die linken, liberalen und grünen Milieus weiter war als des damaligen Präsidenten Partei selbst.

Die SPD hat, nach gut 25 Jahren Abgrenzung und Allianz von und mit den Grünen, fast jeden Charakter ihres durch Holger Börner oder Helmut Schmidt repräsentierten Personals verloren. Die Partei ist nicht grün geworden, sondern sozialdemokratisch geblieben, ist vielleicht allzu wenig durch die proletarischen Kernschichten repräsentiert – doch die grünen Schnösel von einst, die Weltverbesserer, die zunächst immer alles nur besser wussten, vor allem, wie die Welt funktioniert, vor denen haben sie keine Angst mehr. Die SPD-Welt reagiert wirklich nicht mehr phobisch auf alternative Politikvorschläge – wenn sie nicht gleich wieder das ganz Andere wollen.

Der Union hingegen fehlt diese Erfahrung; auch wenn Angela Merkel, um Antje Vollmer zu zitieren, als CDU-Vorsitzende nur möglich wurde, weil die Männer nach Kohl verbrauchter als sie wirkten und weil eben eine Frau als leader of the pack denkbar war, der grünen Frauenquote sei Dank.

In der Union werden wie eh und je Ressentiments gegen alles gehegt, was irgendwie einer ständischen, traditionellen und monochromen Gesellschaft wie jener der Fuffziger widerspricht. Das Bunte an der Republik, von dem Köhler sprach, ist den Christunierten suspekt. Wenn Angela Merkel von Freiheit spricht, sagt sie nicht – und nicht nur sie schweigt sich aus –, was sie darunter versteht. Worauf ist sie stolz, wenn sie es auf Deutschland ist? Welche Freiheit meint sie? Die des anderen Lebens? Eines anderen Lebensentwurfs? Ihre Aussagen, und sie stehen stellvertretend, bleiben nebulös: Man gratuliert und weiß nicht wofür. Alles, was tatsächlich Freiheit unterhalb des demokratischen Regelwesens ausmacht, hat in der Union keine Lobby – sie nimmt hin, ob einst die Ostverträge, später die Frauenpolitik oder die Homoehe …

Ganztagsschule? Mama soll lieber zu Hause bleiben. Familie? Der Papa soll ihr vorstehen. Gewalt gegen Kinder als Strafe für Bagatellen? Man höre sich an den Stammtischen um, gern auch in Süddeutschland: Sie hat noch niemandem geschadet. Ächtung von Gewalt gegen Kinder? Unionsregierte Länder hatten da viel einzuwenden. Eingetragene Lebenspartnerschaften von Schwulen und Lesben? Die Union sah und sieht das Abendland bedroht und klagt in Karlsruhe, als befürchtete sie Feindliches.

Deutschland als Einwanderungsland? Es war und ist die Union, und nicht die CSU allein, die stetig das Bild malt von sozialgeldgierigen Horden aus dem Osten und Süden, die uns, in ihrem Sound, überschwemmen. All das, was das Leben in der Bundesrepublik different macht, was die Buntheit ihrer Lebensstile angeht, scheint der Union suspekt – woraufhin sie in Abwehr erstarrt, im Bundesrat ihre Majorität zur Blockade nutzt und am liebsten alles so ließe, wie es unter Adenauer noch schien. Die Grenze zum Justemilieu der Union muss als eine zur Illiberalität wahrgenommen werden, zum Phantasma einer illiberalen Gesellschaft.

Doch muss diese Skizze verstanden werden als ewige Gegnerschaft zur Kundschaft der Union, zu ihrer Klientel? Nein, sie subversiv zu unterlaufen wäre das nächste Projekt der Grünen. Sie haben den Sozialdemokraten zur Modernisierung verholfen, zum eigenen Begriff des gesellschaftlichen anything goes, aber die Arbeitslosenzahlen, die sprechen nicht für Gerhard Schröders dritten Triumph. Die Grünen, wenn sie denn ihre Prinzipien ernst nähmen, könnten sich mit der Union behaupten – und dann gegen sie: Gemeinsamkeiten gäbe es, nicht nur im Ökonomischen, meinetwegen Neoliberalen.

Die Idee des absoluten Schutzes des Lebens ist bei den Grünen so populär und programmatisch zentral wie in der Union; die Phantasien von Umweltschutz und Natur überlappen sich frappierend; die Vorstellung, dass die Welt nicht nur nach Nützlichkeiten zu funktionieren hat, ist Grünen und Union, jedenfalls ihren offen christlichen Teilen, gemein, ebenso die Frage der Subsidiarität im Hinblick auf gesellschaftliche Unterstützungssysteme.

Woran es der Union gebricht, ist das Feld der Liberalität, der Akzeptanz von Lebensstilen. Geht es um den Schutz von Minderheiten, ist es mit der Loyalität der Union nicht weit her. Dass ein demokratischer Staat nicht von der Gewalt der Mehrheit lebt, sondern zunächst vom Schutz der Minderheiten vor der Mehrheit, ist längst nicht Commonsense in der Union, und war es nie. Ihr dabei aufzuhelfen, wäre das letzte Zivilisationsprojekt der Grünen – es ist ihr wichtigstes für die nächsten 20 Jahre.

Das ist mit der real existierenden Partei der Grünen, offen gestanden, aktuell nicht zu machen, und mit der Union auch nicht. Es fehlt einer Allianz beider Parteien das, was man Leidenschaft nennen müsste. Niemand fände es wahrhaft attraktiv, doch gerade darin läge ihre Kraft. Die Sozialdemokratie hätte wieder viel zu opponieren, und sie täte es am besten mit Vorschlägen, die sie nicht weiter entproletarisieren.

Die Pointe, dass die Grünen wie ein „Wirtstier“ (Michael Glos, angsterfüllt) sich der Union zuwenden, wäre doch, dass die Grünen eben für dieses Achtundsechzig mit stehen – und die Union jene Partei ist, die noch immer nur schwer in der liberalen Moderne ankommen will. Sie war es, die die Bundesrepublik der Fünfziger moralisch so gehalten hat, als sei der Krieg verloren, aber nicht die Werte, die der „Wohlfühldiktatur“ eigen waren.

Rot-Grün ist und war ein Erfolg; die Bundesrepublik ist mit dieser Allianz ein wenig westlich-normaler geworden, nonreaktionärer. Das Wagnis heißt Schwarz-Grün. Eine unwahrscheinliches Projekt. Mit solchen aber ist die Bundesrepublik immer gut gefahren.