: Seinen Stand finden
„Postost Melancholy“ in Lichtenberg versammelt Arbeiten von Künstler:innen mit postsowjetischer oder vietnamesischer Herkunftsgeschichte
Von Beate Scheder
Für das Umsichselbstkreisen, auf der Suche nach etwas, was einem Halt gibt, hat Witalij Frese das Bild eines Armes gefunden. Getöpfert und glasiert ist dieser, in sich selbst gewunden und verdreht, nach einer Art Wurzel greifend, in der dieser statt einer Schulter mündet. „Selbstverstrickung“ heißt die Skulptur des 1992 geborenen deutsch-russischen Künstlers, die von der Suche nach einem eigenen Weg im Kontext unterschiedlicher Prägungen erzählt.
Freses Arbeit ist momentan in der Galerie für zeitgenössische Kunst im Ratskeller Lichtenberg zu sehen, als Teil einer Gruppenausstellung namens „Postost Melancholy“. So wie Frese haben alle sechs beteiligten Künstler:innen eine postsowjetische oder vietnamesische Herkunftsgeschichte, sind entweder in Deutschland geboren oder als Kinder hergezogen. Die vietnamesische Community spielt über Bande mit hinein, durch die Geschichte vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen in der DDR. Präsent gerade in Berlin-Lichtenberg, wo noch heute viele von ihnen oder ihren Nachkommen leben. Wie auch seit den 1990er Jahren viele Menschen aus ehemaligen Sowjetstaaten. Fünf der sechs in der Ausstellung beteiligten Künstler:innen sind in den frühen 1990er Jahren geboren, mitten hinein in Zeiten des Umbruchs, aufgewachsen sind sie allesamt in der Diaspora oder im Dazwischen, hier wie dort.
Sich verorten, seinen Stand finden: Symbolisch spiegelt sich das in einem Paar Füße, das Frese in eine Ecke gestellt hat. So, als müsste die Person, der sie gehören, sich dort hinstellen, um sich zu schämen, weil sie etwas angestellt hat. Das Brennen hat die keramische Form etwas schrumpfen lassen, ganz wie Kinderfüße wirken sie dennoch nicht, eher wie eine melancholische Imitation davon, wie der Versuch eines Erwachsenen, sich wieder ins Kindsein einzufühlen.
Natalia Bougai, die älteste unter den Künstler:innen, geboren 1974 in Potsdam, aufgewachsen in Zentralrussland und der Ukraine, beschäftigt sich mehr mit der Gegenwart. Sie hat Auszüge aus ihrem Familienchat ausgedruckt. Beginnend im Jahr 2021, noch vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine, bis heute. Eine Konversation zwischen Familienmitgliedern mit ukrainisch-russischen Wurzeln, die zerstreut leben, in Russland, der Ukraine, Deutschland, Österreich. Sorge und Zuneigung kann man da herauslesen, Spannungen aber auch, in dem was geschrieben wird, und vor allem in dem, worüber geschwiegen wird. Immer wieder werden Fragen nicht beantwortet, kommt es zu längeren Pausen, verlassen Personen gar den Chat.
Auf einem Video, das aus derselben Chatgruppe stammt, nackte Füße, die über eine zarte Schneedecke gehen, durch die das Gras schon durchscheint. Über dünnes Eis, das bei jedem Schritt zerdrückt wird. Ein Bild für die Fragilität, die Zerbrechlichkeit des Bodens, auf dem man steht, für die Verletzlichkeit mit der man sich darauf bewegt. Komplexe Familienbande, davon erzählen auch andere Arbeiten. Minh Duc Pham lädt dazu ein, beim Betrachten seines Zimmerbrunnen aus Porzellan einem fiktiven Dialog zwischen ihm und seinem ungeborenen älteren Bruder zu lauschen. Abgetrieben hatte ihn seine Mutter, weil ihr als DDR-Vertragsarbeiterin bei Schwangerschaft die Abschiebung gedroht hätte. Subtiler die Herangehensweise von Minh Dung Vu, dessen Stoffarbeiten ganze Wände füllen. Textilien unterschiedlicher Art, Leinen, Seide hat er aneinander und übereinander genäht, mit Leerstellen dazwischen. Vieldeutig sind die Collagen, fragil und formbar, so wie Identitäten es eben sind.
„Postost Melancholy“: rk – Galerie für zeitgenössische Kunst im Ratskeller, bis 9. Oktober
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